Nonfiktionaler Film im öffentlich rechtliches Fernsehen
„Das Fernsehen ist das dokumentarische Medium schlechthin, noch vor und unter der Ebene des gestalteten Nonfiktionalen Films. Die aktuellen Nachrichten- und Magazinsendungen, wie schlecht zusammengestellt und kommentiert sie immer sein mögen suggerieren dem Zuschauer die Allgegenwart des Weltgeschehens auf seinem Bildschirm.[...]Die Verfügbarkeit der Welt aber ist auch eine Illusion; die Fernsehanstalten treffen eine rigorose Auswahl.“(Roth 1982:145)
Für den Nonfiktionalen Film in Deutschland (und nicht nur dort) ist das öffentlich rechtliche Fernsehen als wichtigster Auftraggeber und Finanzier. Das öffentlich Rechtliche war (und ist) mit reichlich Mitteln aus öffentlicher Hand ausgestattet, die nicht gewinnbringend investiert werden mussten, um private Produzenten zufrieden zu stellen. Genau dadurch bestand die Möglichkeit, die neu entwickelten Formen des Dokumentarischen zu fördern. Hier waren Gelder vorhanden für kostenintensive Filmarbeit, die keinerlei Kommerziellen Erfolg versprach. Ein Wettkampf mit dem, Anfang der achtziger Jahre eingeführten, Privatfernsehen gab es in der BRD noch nicht.
Durch die sechziger bis in die frühen siebziger Jahre bedeutete das für viele Regisseure gute Auftragslage, Finanzierbarkeit und relativ freie Hand auch bei der Bearbeitung kritischer Themen. Ende der sechziger Jahre wurden jedoch viele Redaktionen neu besetzt mit oft eher konservativeren Redakteuren, dadurch wurde es zunehmend schwieriger Filme für das Fernsehen anzufertigen, die nicht jenen gewöhnlichen Standards entsprachen, mit denen eine Redaktion keinerlei Risiko eingehen konnte.(Schübel; Roth 145f)
Zum einen ist das öffentlich rechtliche Fernsehen Deutschlands zwar durch Rundfunkräte überwacht und somit immer wieder anfällig für politische Eingriffe und entsprechende Personaländerungen gewesen, zum anderen besteht jedoch nach §11 des Rundfunkstaatsvertrags ein Bildungsauftrag des Rundfunks. Danach verpflichten die Sender sich, unabhängige und informative Programmanteile auszustrahlen. Nicht zuletzt dadurch konnten sich in manchen Ressorts der Fernsehanstalten in den fünfziger und sechziger Jahren Redaktionen bilden, aus denen heraus kritischer Journalismus publiziert und den Menschen in Nonfiktionalen Filmen eine Stimme gegeben werden konnte, die im sonstigen Mediengeschehen für gewöhnlich nicht zu Wort kamen.(Roth 1982:145f)
Zu erwähnen ist hier das heute von uns als Stuttgarter Schule bezeichnete Konglomerat aus Filmschaffenden welche sich beim SWR-Vorgänger SDR in loser Redaktion einfanden. Unter der Leitung von Heinz Huber wurde die Hörfunksendung ZEICHEN DER ZEIT ins TV-Format eingebracht. Die innovative Filmgestaltung der großteils sehr jungen Regisseure wurde nicht zuletzt durch den damaligen Intendanten Fritz Eberhard ermöglicht. Ehemalige Spiegel- und Tagesschauredakteure fanden sich damals beim SDR ein und drehten eine große Reihe an Zeitkritische Filmen, die mit einen oft sarkastischen Blick die frühe Bundesrepublik beobachteten. Gemeinsam ist vielen Filmen der Stuttgarter Schule ihr genauer Blick und der scharfzüngige Offkommentar,
welcher immer auf genauer Analyse fußte Dokumentierend kritisiert wurden unter anderem die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik (DIE DEUTSCHE BUNDESWEHR. Heinz Huber BRD 1956), der Automobilwahn der Deutschen (DER AUTOKULT (Wilhelm Bittorf BRD 1964) die Wohnverhältnisse von deutschen Flüchtlingen in Paris (.), die Vorgänge um die deutschen Misswahlen (DIE MISSWAHL.Brodmann, Roman.BRD 1966), die Einberufungspraxis der Bundeswehr(EINE EINBERUFUNG Elmar Hügler BRD 1970), der Besuch des iranischen Schahs an dessen Rand Benno Ohnesorg erschossen wurde (DER POLIZEISTAATSBESUCH Brodman, Roman BRD 1967).Die Dokumentarfilmabteilung des SDR galt als kreatives Experimentierfeld für junge Dokumentaristen. Sowohl textlich hochwertige Features als auch Cinema Verite Stücke und nahezu reine Direct Cinema Stücke wurden produziert.
Im frühen Film DIE DEUTSCHE BUNDESWEHR werden von der Musterung kommende baldige Soldaten ebenso im Straßeninterview Stil aus dem Blauen heraus befragt. DER POLIZEISTAATSBESUCH kommt mit wenigen Kommentaren fast mit bloßer Beobachtung aus und vermag es so starke Aussage und dichte Atmosphäre zu schaffen. Auch Filme wie DIE MISSWAHL und SCHÜTZENFEST IN BAHNHOFSNÄHE verschaffen durch genau sezierenden Blick auf scheinbar Nebensächliches in kollektive Verdrängung und Abänderung der Vergangenheit.
Das SCHÜTZENFEST IN BAHNHOFSNÄHE (Dieter Ertel und Georg Friedel BRD 1961).zeigt die Feierlichkeiten des Schützenbundes in Kreiensen, der norddeutschen Stadt, die damals einen starken Waffengroßhandel beheimatete. Mit steigendem Blutalkoholwert werden auch die Zungen der Schützenbrüder lockerer und man scheut sich nicht auf alte deutsche Werte wie Vaterland Ehre und Treue zu schwören. Im Stile des Cinema Verite schafft es die Kamera unter den rechten Fragen die entlarvenden Äußerungen der Schützen einzufangen.
Ein erheiterndes Beispiel für ein offenbar missglücktes – da gar nicht stattgefundes – Interview findet sich in DER AUTOKULT wo direkt zu Anfang ein Außenreporter mit großem Mikrophon auf einem öffentlichen Platz vor einem Brunnen steht und ankündigt Passanten zu ihrer Meinung betreffs des zunehmenden Lärms und der Hektik in den Städten verursacht durch Autos zu befragen...der Zuschauer wartet vergebens auf diese Straßenbefragung.
Der rein beobachtende Nonfiktionale Film der sechziger Jahre war eine Reaktion auf die im Fernsehen allgegenwärtigen Features und Reportagen, die oft willkürlich Bilder benutzten um Symbole zum vorgeschriebenen Text zu geben.(Roth 1982:147) Einen anderen Weg strebte Klaus Wildenhahnan. Er war 1961-65 selbst Mitarbeiter des Magazins PANORAMA, half dort zunächst bei einigen Kurzreportagen und drehte schon bald eigene Featurefilme. Er war Realisator einiger Berichte, u.a. über Parteitage der SPD und CDU. Er war zeitlebens Angestellter beim NWDR und Regiedozent an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Er orientierte sich stark an Leacock und dem polnischen Dokumentaristen Jerzy Bossack, denen er den Film FÜR LEACOCK UND BOSSACK (Klaus Wildenhahn. BRD 1984) widmete; ein hochreflektiver Film, in dem es gar Situationen gibt in denen bei einem gefilmten Mittagessen mit Filmkritikern, das Filmmaterial am Ende ist und die Handlung ein paar Momente nach dem Essen wieder einsetzt mit kurzer Bemerkung zu dem in der Zwischenzeit (ungesehen) Geschehenen. Wildenhahns Objekte waren beispielsweise Montagearbeiter IN DER FREMDE (Klaus Wildenhahn. BRD 1967), deren Polier zwischen den Stühlen der Unternehmensführung und der ihn unterstellten Arbeiter steht, Fabrikarbeiter deren Arbeitsstandort in die USA verlegt werden soll (EMDEN GEHT NACH USA. Klaus Wildenhahn BRD1975/76), die Forschungsgruppe eines Robert Koch Instituts (INSTITUTSSOMMER. Klaus Wildenhahn. BRD1969), die „Belegschaft“ einer Kneipe auf St.Pauli in der Weihnachtsnacht (HEILIGABEND AUF ST.PAULI. Klaus Wildenhahn. BRD.1967/68). Wildenhahn legte Wert darauf die Chronologie des gefilmten Geschehens beizubehalten und möglichst den ganzen filmerischen Prozess offenzulegen. Viele Momente wirken improvisiert; so sind Zwischentitel teils einfach auf Zettel geschrieben und abgefilmt. Wobei sie natürlich nur improvisiert sein können, da ja das Leben eingefangen werden soll wie es sich der Kamera darbietet, ganz ohne Skript. Die meisten Stücke seines Filmkorpus sind reine Direct Cinema Stücke; die Situationen werden aufgenommen ohne jegliche Manipulation an ihnen, Wildenhahn versucht beizuwohnen, aber möglichst nicht einzugreifen. Es waren immer Langzeitstudien, aus denen das Filmmaterial hervorging. Stellt er jedoch Fragen und führt Interviews, so erscheint er oft selbst vor der Kamera und gibt nicht vor als Filmender quasi unsichtbar gewesen zu sein. Wildenhahn erklärt zumeist dem Zuschauer die Situationen in denen er sich beim Sehen seiner Filme wiederfindet, lässt jedoch den Gefilmten Zeit für sich selbst zu sprechen, betrachtet die Handlungen, um aus ihnen ein Stück Wahrheit destillieren zu können. Die Langzeituntersuchung ist für sein Werk notwendig, da der richtige, einmalige Moment – ganz im Sinne Vertovs – abgepasst werden muss; der Schnitt beginnt ergo bereits in der Kamera.(Wildenhahn:4.Lesestunde) Dabei sind die meisten Filme Wildenhahns sehr politische Stücke, ohne dies explizit angeben zu müssen. Jedes Sujet hat kritisches Potential und in ihnen werden materielle wie gesellschaftliche Widersprüche Abgebildet. In seiner Tätigkeit als Dozent an der Film – und Fernsehakademie Berlin und als erster Dokumentarfilmtheoretiker der BRD beeinflusste Wildenhahn viele junge Filmer.
Ein Regisseur, der an dieser Stelle ebenfalls Erwähnung finden sollte ist Frederick Wiseman. Er war ausgebildeter Anwalt und Juradozent bevor er sich das Filmen autodidaktisch beibrachte. Gesellschaftliche Institutionen, militärisch, bürokratische, teils totalitäre sind es denen Wiseman Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre seine Aufmerksamkeit schenkte. Soziale Biotope in deren Abgeschottetheit er sich hineinbegab. In seinem ersten selbstgedrehten Film TITTICUT FOLLIES (Frederick Wiseman. USA 1967), über eine „Heilanstalt“ für psychisch kranke Straftäter, führte Wiseman das Direct Cinema auf eine neue Stufe. Der Rezipient wird einfach in eine Situation hineingeworfen und muss sich zunächst eine Orientierung verschaffen. Wiseman verhandelt allgemein bekannte Organisationen wie zum Beispiel die HIGH SCHOOL (USA 1968), ein Polizeistation (LAW AND ORDER. USA 1969), ein Jugendgericht (JUVENIEL COURT. USA 1973) und ein großes Krankenhaus (HOSPITAL. USA 1970). Mit derlei Institutionen ist zwar jeder Rezipient des amerikanischen Fernsehens vertraut, jedoch nicht mit den genauen Abläufen und den eher impliziten Machtstrukturen innerhalb ihrer. Personen treten bei Wiseman oft nicht in ihrer Einmaligkeit auf. Es geht weniger darum die Individuen zu zeigen, als die Institutionen in denen sie leben und die sie zugleich ihrer Individualität berauben. Wiseman dokumentiert in seinen Filmen fest verankerte Organisationsstrukturen seiner eigenen Gesellschaft, um ihr blindes funktionieren an und jenseits der Grenze der Humanität zu zeigen.
Da Wiseman sich scheinbar völlig zurücknimmt, kommt es zu keinen direkten Interviews, man findet stattdessen viele innengerichtete Dialoge vor. Das Besondere ist nun, dass diese Dialoge samt und sämtlich in institutionellen Rahmen stattfinden; nicht eine Person redet hier, sondern der bloße Agent einer Rolle im sozialen Schauspiel. Der Richter und der Angeklagte, der Psychiater und der Kranke, der Schuldirektor und die Eltern des ungehörigen Schülers usw. Langzeitstudien wie Wildenhahn machte Wiseman nicht, er filmte (und filmt) in acht bis zehn Wochen möglichst viel Material ab und verbrachte den Großteil der Arbeitszeit mit der Postproduktion. Erst im Schnitt fand die Sichtung, Auswertung und Recherche statt und eine angemessene dramaturgische Struktur entstand.(Wiseman o.A,) Schon allein durch die Rahmung erhalten seine Filme ein immenses kritisches Potential; so endet beispielsweise HIGH SCHOOL damit, dass eine Lehrerin einen Brief von einem ehemaligen Schüler verliest, der sich nun freiwillig für den Krieg in Vietnam gemeldet hat, sowohl er als auch die Lehrerin sehen dies als vollen Erfolg für die geglückte Erziehung durch die High School an.
Obwohl sein erster Film TITTICUT FOLLIES bis in die neunziger Jahre in den USA verboten war – angeblich um die Persönlichkeitsrechte der gezeigten fast schon wie KZ Insassen wirkenden „Patienten“ nicht zu verletzen – erhielt Wiseman immer wieder neue Verträge mit der öffentlich rechtlichen Senderkette PBS, um weitere Filme über amerikanische Institutionen anzufertigen. Roth zur Folge war Wiseman mit einem Filmverkaufspreis von damals(Anfang der 80er) an die 75000 $ der wohl bestbezahlte Dokumentarfilmer der USA.(Roth 1982:81) Wiseman dreht nach wie vor Filme und nach wie vor für das PBS, für dass er bisher jeden seiner Filme drehte. Die Themenfelder haben sich im laufe der Jahre verbreitert und vieles des oben gesagten gilt vor allem für Wisemans frühe Filme.