Ethnologie
Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts etablierte sich langsam die Ethnologie als Wissenschaft. In ihrer Entwicklung spielte das Interview eine immer größere Rolle. Mit fortschreitender Reflexion über das Themenfeld der Ethnologie und über Probleme der Repräsentation wird das Interview im Rahmen von ethnographischen Feldstudien zur Datenerhebung schon seit langem standardmäßig durchgeführt.(Illius 2006:87) Das Forschungsinteresse zielt auf das Verstehen und Nachvollziehen zunächst fremder Kulturen (bzw. solcher Aspekte der eigenen Kultur) und dort beobachtbarer Handlungspraxen. Mit Hilfe der Feldforschung, deren wichtigste Bestandteile die teilnehmende Beobachtung und das Interview sind, sollen diese fremden Bereiche erschlossen werden.
Der von der neueren Ethnologie etwas ablehnend als „armchair anthropologist“ (da er nicht, wie nachher üblich, Feldforschungen betrieb, sondern am heimischen Schreibtisch über fremde Völker schrieb) abgetane Lewis Henry Morgan führte bei viele indigenen Völkern – unter anderem den Irokesen und Sioux – Fragebogeninterviews durch, um Informationen über ihr „kinship system“ in Erfahrung bringen. Dafür verschickte er weltweit Fragebögen an Kolonialbeamte und Missionare. Mit deren Hilfe wollte er Rückschlüsse auf die Verwandtschaftssysteme ziehen. Dies war die Grundlage für sein Werk „System of Consanguinity and Affinity of the Human Family“(1871).
Der Begründer des Kulturrelativismus Franz Boas bestritt ab dem 2.Mai 1884 seine zweite Expeditionsreise zu den Inuit, in welcher er deren soziale Strukturen, Sprache und geographisches Wissen dokumentierte. Da nach Franz Boas Ansatz jede Kultur eine unvergleichliche Einheit ihrer Sprache, Gebräuche, sakralen Zeremonien, Kosmologie und Wertvorstellungen bildet, war es für ihn von besonderer Wichtigkeit die Aussagen seiner Informanten, sowie die Texte von Mythen und Gesängen, möglichst exakt zu transkribieren, ergo genau so wie sie geäußert worden waren.
Die teilnehmende Beobachtung wurde von Bronislaw Malinowski, der von 1915 bis 1918 bei den Trobriandern lebte und seine methodischen Überlegungen im Buch „Argonauts of the Western Pacific“ (1922) niederschrieb, als Forschungsansatz etabliert. Bei der Feldforschung handelt es sich um einen langen stationären Aufenthalt in einem zu beschreibenden Feld. Durch die Teilnahme am Alltag der Beobachtungsobjekte, kann eine Teilnehmende Beobachtung statthaben, welche es erlaubt die nicht direkt offenkundigen Sozialzusammenhänge tiefer zu durchdringen und zu verstehen. Malinowski war zwar nicht der erste der Feldforschung betrieb, jedoch der erste, der sie als eine gezielte Forschungsmethode beschrieb und konzeptualisierte.(Illius 2006: 75f)
Interviews in der Ethnologie sind regelgeleitet, sollten jedoch immer offen für Änderungen sein, um zum einen das Ziel einer gezielten Informationsbeschaffung nicht aus dem Blick zu verlieren und zum anderen auf die Eigenarten des Interviewten eingehen können. Das Ziel ist es immer möglichst viele Informationen in Form von Aussagen und Emotionen über das zu untersuchende Feld vom Gegenüber zu erlangen. Der erste Schritt im Feld ist das Beobachten, erst danach sollte passiv und später aktiv an den alltäglichen Unterhaltungen teilgenommen werden. Es sollte jedoch jeder Feldforschung eine gründliche Recherche vorausgehen, um vor Ort Zeit zu sparen und auch schon bei den ersten Begegnungen mit den Akteuren möglichst respektvollen Umgang pflegen zu können. Ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Kulturanthropologen und Untersuchungsobjekten ist unverzichtbar.
Idealerweise sind die zu führenden Interviews im Vorfeld vorbereitet und terminlich vereinbart. Allerdings gestaltet sich das Führen eines Interviews im wirklichen Feld oft erheblich schwieriger. Es muss dem Interviewer oft gelingen aus einem sich ergebenden Gespräch heraus ein Interview zu kreieren, bei dem der Interviewte für die Forschung wichtige Erfahrungen preis gibt.(Flick 2006: 220) Als Methode gelangt das verbal und nonverbal informierende Interview spätestens dort an seine Grenzen, wo der Interviewte auf eine sprachlich nicht vermittelbare Erfahrung hinweist. So können auch beispielsweise Rauscherfahrungen nur schwer beschrieben werden.(Illius 2006: 88)
Besonders wichtig ist die Transkription, bei welcher vor allem die Phänomene der Mündlichkeit in systematischer Art und Weise beachtet werden. Der Unterschied zum einfachen journalistischen Interview ist groß, da bei letzterem das Gesagte um der Leserlichkeit Willen künstlich literarisiert wird, wohingegen die Transkription, möglichst jeden Akzent, Sozio- wie Dialekt, als auch jedes Räuspern und Stöhnen mit aufführen sollte. Die Transkription in ausgeweiteter Form findet auch Verwendung in der Videographie – bei der Analyse visuell aufgezeichneter Situationen zur Gewinnung qualitativer Daten.
Das Interview als Forschungsinstrument in der Ethnologie ist alos ein planmäßiges Vorgehen mit wissenschaftlicher Zielsetzung, bei der man den Protagonisten mit gezielten Fragen verbale Informationen entlocken will, mit denen man als Augen- und Ohrenzeuge Erkenntnisse, Verständnis von und Zugang zu der Kultur des zu untersuchenden Volkes gewinnen möchte. Ziel ist es nicht nur die Umwelt des Interviewten zu beschreiben, sondern auch Erkenntnisse über die dahinter stehenden Sinnzusammenhänge zu gewinnen. Theoretisch wäre es dabei wichtig, dass die Distanz zu dem Probanden aufrecht erhalten wird, da man diesen nur auf diese Weise so „realitätsnah“ wie möglich beschreiben und analysieren kann (soll die Beobachtung jedoch tatsächlich teilnehmend sein, so bleibt fraglich inwiefern eine Distanz durchgehalten werden und nicht bloß Verleugnung des immer schon wechselseitigen Kommunikationsprozesses ist bzw. genau diese Distanz eigentlich eine hierarchische ist).
Die Ergebnisse eines Interviews, Transkriptionen und Beobachtungen, sind Grundstock der Arbeit in der Ethnologie. Diese Resultate müssen anschließend analysiert, kontextualisiert, verglichen und interpretiert werden. Das Problem der Verschriftlichung von Interviews liegt jedoch darin, dass man den Quellenwert und die Einzigartigkeit der zugrunde liegenden Erzählungen stets betonen muss, da diese schließlich der Gewinnung eigener, neuer Einsichten dienen. Wenn nicht bereits die Interviewsituation selbst, durch die Machtdifferenz zwischen Wissenschaftler und Versuchsobjekt, verfälschend wirkte, so werden die anfänglichen Aussagen der Protagonisten spätestens im Prozess der Verwissenschaftlichung von ihrem ursprünglichen Aussagepunkt entfremdet.(Ballhaus 2006: 11) So kann es passieren, dass Interviewte genau das erzählen, von dem sie glauben, dass der Forscher es hören will oder es zumindest nicht in Frage stellen wird.
Wie einst der berühmten amerikanischen Ethnologin Margaret Mead widerfahren. Sie wurde von Franz Boas 1925 im Alter von 23 Jahren nach Samoa geschickt, um zu untersuchen wie samoische Mädchen ihre Pubertät verbringen. Hier kam es wohl zu ihrem ersten Interview, indem sie erst beobachtete und dann eine kleine Gruppe von Mädchen über ihre Erfahrungen in der Pubertät befragte. Bei ihrer Arbeit verzichtete sie auf Kontrollen, da sie nur Daten sammelte, die ihre, bzw. Boas Hypothese bestätigten. Im Nachhinein stellte sich die Befragung als Ente heraus, da sich die Mädchen einen Spaß mit ihr erlaubt und ihr genau das erzählten was sie hören wollte. (Shankman: S.555-567) Diese Problematik muss in der qualitativen Datenerhebung mit berücksichtigt werden.
Die Ethnologie verfährt qualitativ/induktiv. Die qualitative Methode in der Sozialforschung lässt sich sehr gut im Bereich der Untersuchung sozialer Zusammenhänge anwenden.(Flick 2000: 9) Es geht ihr darum zu beschreiben, zu interpretieren und Zusammenhänge nachzuvollziehen – sie zugleich nachvollziehbar zu machen. Als Wissenschaft geht es ihr selbstverständlich um die Aufstellung von Klassifikationen/Typologien sowie um die Generierung von Hypothesen. Hypothesen und theoretische Einschätzungen entstehen beim qualitativen Ansatz erst während des Forschungsprozesses. Besonders klar wird diese Vorstellung im Ansatz der „gegenstandsbegründeten Theoriebildung“, die von Glaser und Strauss (1967) entwickelt wurde. Der Forschungsprozess in der qualitativen Forschung ist von Flexibilität geprägt, die notwendig ist um die beforschten Phänomene zu erfassen, begreifen und verstehen zu können. (Flick 2000: 56)In einem offen geführten Interview können, entgegen streng an Fragebögen und -katalogen orientierten Befragungen, bisher blinde Flecken illuminiert werden.
Der zu untersuchende Gegenstand ist erstens Bezugspunkt für die Auswahl von Methoden und nicht umgekehrt. Gegenstände werden in ihrer Komplexität und Ganzheit in ihrem alltäglichen Kontext untersucht. Hierbei werden zweitens unterschiedliche Perspektiven analysiert und untersucht. Außerdem werden drittens die Reflexionen des Forschers über Handlungen und Beobachtungen im Feld, seine Eindrücke, Irritationen, Einflüsse und Gefühle dokumentiert und gleich wohl zu Daten die in die Interpretation einfließen.
Als Medium der Ergebnisdarstellung einer Feldforschung und als eines ihrer Aufzeichnungsinstrumente wird der Film schon lange genutzt. Das Interview im Film setzte sich jedoch in der ethnologischen Forschung nur langsam durch. In der Frühgeschichte der Cinematographie finden sich bereits viele Filme mit weitestgehend ethnographischem Inhalt. Als Medium der Attraktion gab es bereits um die letzte Jahrhundertwende viele Aufnahmen „exotischer“ Kulturzusammenhänge. Aufnahmen von Kolonialreisen wurden ebenso wie aus den Völkerschauen, häufig angefertigt und aufgeführt, um das Fremde auszustellen.
Erstmals wichtig für die akademische Ethnologie waren die 1930 von Margaret Mead und Gregrory Bateson für ihre Studie zum „balinesischen Charakter“ gesammelten Foto- und Filmmaterialien. (Miko, Sarvadar 2007:1ff) In dieser Filmarbeit wurden wissenschaftliche Thesen aufgestellt und visuell dargelegt, jedoch dienten die Gefilmten in erster Linie der Unterstützung von Thesen des Wissenschaftlers. Dessen Autorität war omnipräsent in Zwischentiteln und im später sich verbreitenden Tonfilm auch in Off-Kommentaren.
Seit Synchrontonaufnahmen möglich sind, und wenn es die epistemologischen Grundsätze des Filmenden zulassen, steht am Anfang jedes ethnographischen Filmschaffens immer die Frage, ob man den Bildern einen Kommentar unterlegt und/oder ob man Interviews verwendet. Der Kommentar ist eine einfache und naheliegende Lösung, da sich mit ihm ohne weiteres auch komplexeste Zusammenhänge erklären lassen und verhältnismäßig wenig Rohmaterial abgedreht werden muss. Beim Kommentar handelt es sich immer um eine direkt an den Rezipienten gerichtete Äußerung des Filmemachers in überlegener Distanz zum Dargestellten. Das Interview hingegen wirkt oft unmittelbarer, da in ihm ein Mensch direkt aus seinem Erleben zu berichten scheint.(Engelbrecht, Krüger 2003: 69ff.) Das Interview – will es mehr als bloß ein Statement sein – bedarf, auch hier, einer langen Vorbereitung – am besten im Rahmen einer Feldforschung. Es wird zwischen drei Drehsituationen unterschieden: Der arrangierten Szene, der aus der Aktion heraus gedrehten Szene und der traditionellen Erzählsituation.(Engelbrecht, Krüger 2003: 71ff)
Anfang der fünfziger Jahre gründete sich in Göttingen das Institut für Wissenschaftlichen Film (IWF), welches u.a. die Encyclopaedia Cinematographica anlegte. Diese beinhaltete, im ethnographischen Bereich, von Experten aufgenommene Aufnahmen von möglichst einfachen handwerklichen Tätigkeiten. Die Art des Vorgehens bei Aufnahmen war streng vorgeschrieben, um „Wissenschaftlichkeit“ zu wahren. Die hier gezeigten Menschen blieben wortlos, wurden unter erklärender Stimme und/oder Zwischentiteln dargestellt. Erst in den achtziger Jahren wurden vom Institut Interviews verwendet, was den Gefilmten ein wenig Erklärungsmöglichkeit gab, wobei allerdings nicht all die Nachteile vergessen werden dürfen, die für ungeübte vor der Kamera sich ergeben können.(Ballhaus 2006: 11ff)
Der neuere ethnographische Film versucht seit seinem Vorläufer – Flahertys Plotbasiertem (Ethnofiction)Film NANOOK OF THE NORTH (USA 1923) – mit den gefilmten Objekten zusammenzuarbeiten. Flaherty plante gemeinsam mit seinen Charakteren an dem Dreh weiterer Szenen. Ein informed consent, in dem sich jeder Gefilmte bewusst sein kann wofür seine Aufnahmen verwendet werden, ist ein hoher Grundsatz in der neueren visuellen Anthropologie.
Mit dem fachintern häufig als unwissenschaftlich kritisierten Jean Rouch, auf den später noch eingegangen werden wird, kamen zwei Jahrzehnte zuvor die sprechenden Menschen in die Audiovisuelle Anthropologie. In der Ethnologie, die sich zu eigenen Kolonialen Wurzeln in weiten Teilen immer kritischer positionierte entwickelten sich im Laufe der sechziger und siebziger Jahre viele Diskussionen um die Frage der Repräsentation von nicht europäischen Kulturen durch gebildete Europäer. Das gefilmte Interview, mit over-voice oder oft bloß mit Untertiteln übersetzt galt vielen als Lösungsansatz für diese Probleme, hier konnten multivokale Ethnographien geschaffen werden.
Wichtige Interviewverwendende Regisseure waren u.a. Robert Gardner mit seinem Film RIVERS OF SAND (USA 1974) – bei dem er von den umfangreichen Vorrecherchen Ivo Streckers profitierte – in dem eine Frau der äthiopischen Hamar immer wieder zu Wort kommt und das Ehepaar David und Judith MacDougall, die in ihrer Filmtrilogie TURKANA CONVERSATIONS(1981 USA, jedoch bereits 1973 gefilmt) Turkana über Stunden sprechen ließen und wie Robert Gardner keine over-voice benutzten sondern Untertitel.(Strecker 2006:93)
Gerade für den ethnographischen Film ist es wichtig, dass er selbstreflexiv ist. Jedes filmische Schaffen bedeutet eine extreme Selektion aus und Verdichtung von wahrnehmbaren Perspektiven auf die Welt. Je offener/klarer der Prozess des Filmens veranschaulicht wird, auch in Bezug auf Interviewsituationen, um so weniger kann eine Objektivität vorgetäuscht werden, die letztlich – in Berücksichtigung der Tatsache, dass es vor allem „weiße Männer“ aus hochindustriellen Gesellschaften waren die lange Zeit als einzige die Möglichkeit hatten komplexe Kulturgüter wie bspw. Filme und wissenschaftliche Monographien zu produzieren – nichts als einseitige Deutungshoheit ist. In filmischen Interviewsituationen hingegen in denen scheinbar nur eine Person vor sich hin monologisiert wird der Interviewer richtiggehend „verschwiegen“, und mit ihm der Prozess der Fiktionalisierung von Wirklichkeit. Ein Film kann authentischer wirken wenn er keine Objektivität vortäuscht.