Typologie
Außengerichteter offener Dialog
Der „außengerichtete offene Dialog“ kann durch wenige zentrale Merkmale gekennzeichnet werden: Filmemacher (=Interviewer) ist sichtbar, Fragestellungen, die auf einen Dialog abzielen und eine hohe Selbstreflexivität. Die Aussagen des Interviewten entstehen nicht aus einer Handlung heraus, sondern sind lediglich die Reaktionen auf die Fragen des Filmemachers und sind somit ein Vermittlungsakt. Grundlage sind ein themenzentriertes Interview mit Frageleitfaden oder halboffene Fragestellungen.Bei dieser Interviewform wird der Handlungsfluss der Erzählung gestört: „Eine zuvor in sich geschlossene Handlung, an der Menschen in unterschiedlichen Funktionen teilhaben, eine Handlung jedenfalls, bei der wir alle auch Wissenschaftler und Drehteam, lediglich Beobachter sind, wird mit dem Interviewer aufgebrochen und in eine Vermittlungsebene übertragen, die sich schon durch ihre elaborierte Sprach- und Bildform besonders wichtig nimmt. Diese Vermittlung findet als gemeinsame Übertragungsanstrengung der Interviewpartner statt, vom Filmgeschehen ist sie weitgehend entfremdet.“ (Ballhaus 2003: 23) Ebenfalls ist eine vorhandene und thematisierte Asymmetrie zwischen Filmemacher und Interviewtem zu erkennen. Die äußere Form des Interviews lässt also Rückschlüsse auf die Beziehung der Interviewpartner zu. Bei dieser Interviewform steht die Beziehung zwischen Filmemacher und Interviewtem im Fokus. Die filmische Umsetzung gestaltet sich dabei schwierig und die technischen Anforderungen sind hoch, da komplexe Abbildungsprozesse geschehen müssen und mehrere Menschen sprechen. Idealerweise werden deshalb zwei Kameras verwendet. Aufgrund dieser Nachteile wird diese Interviewform eher selten verwendet.
GERNSTLS REISEN - AUF DER SUCHE NACH DEM GLÜCK
(Franz X. Gernstl, D 2006)
Bei diesem Filmausschnitt liegen zwar Abweichungen zu der eben gezeigten Darstellungsform vor, jedoch sind diese nicht so gravierend, dass von einem neuen Typ gesprochen werden sollte. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass sich der Filmemacher nicht in dieser Form sieht, aber dennoch nach dieser Klassifikation in diesen Typ passt. Oft haben die Filmemacher, die für dieses Projekt interviewt wurden, nicht von der Existenz der Typen gewusst. Gernstl führt diese Gespräche ohne einen ausgearbeiteten Frageleitfaden oder ohne genaue Vorstellungen wie der Dreh verlaufen soll. Vielmehr scheint er spontane Unterhaltungen mit den Protagonisten seines Films zu führen. Das zentrale Element des Films sind jedoch nicht allein die Protagonisten und ihre Geschichten, sondern auch der Interviewer selbst und sein Vorgehen.
DIE KIK-STORY: DIE MIESEN METHODEN DES TEXTILDISCOUNTERS
(Christoph Lütgert, D 2010)
Außengerichteter verdeckter Dialog
Der „außengerichtete verdeckte Dialog“ entspricht weitestgehend dem außengerichteten offenen Dialog. Der Interviewer ist jedoch nicht sichtbar und stellt die Fragen meist aus dem Kamerahintergrund. Die Interviewsituation ist weiterhin erkennbar, das Frage-Antwort-Schema dialogisch angelegt und Grundlage sind ein themenzentriertes Interview mit Frageleitfaden oder halboffene Fragestellungen. Die Folgen sind eine geringere Selbstreflexivität und eine Verschiebung des Machtverhältnisses (Interviewter rückt in den Vordergrund) gegenüber dem außengerichteten offenen Dialog. Der Zuschauer scheint mit dem Filmemacher ganz nah dran zu sein. Vermutlich sind die Redebeiträge der Protagonisten eher kurz, da sie auf das Feedback des Filmemachers warten. Die filmische Umsetzung ist einfacher, da ein kleines Team oder auch nur ein einzelner Kameramann genügen. Die technische Anforderung hingegen steigt an, da diese durch wenige Personen bewältigt werden müssen. Diese Form wird jedoch häufig als inkonsequent betrachtet: „[…] wenn eine Entscheidung gegen den offenen Dialog im Film fällt, dann sollte sie konsequenter ausfallen […].“ (Ballhaus 2003: 26) Es handelt sich hierbei ebenfalls um eine eher selten verwendete Interviewform.
KOPFLEUCHTEN
(Mischka Popp und Thomas Bergmann, D 1998)
KOPFLEUCHTEN
(Mischka Popp und Thomas Bergmann, D 1998)
Außengerichteter Monolog
Der „außengerichtete Monolog“ richtet sich an einen imaginären Außenstehenden (bspw. den Zuschauer und Rezipienten). Der Frageleitfaden besteht idealerweise nur noch aus Stichworten und Erzählimpulsen. Die Interviewsituation ist häufig nicht mehr erkennbar, da der Protagonist alleine im Bild ist und die Antworten als selbstständige Erzählung funktionieren. Die für die Handlung und die Botschaft des Films scheinbar überflüssigen Fragen und die Anwesenheit des Forschers werden gestrichen und der Protagonist und seine Erzählung werden zum zentralen Element des Films. Folglich ist die Selbstreflexivität nur gering. Die filmische Umsetzung ist hierbei auch mit einem kleinen Team oder einem einzelnen Kameramann möglich. Die Darstellung des Interviews im Film als ein außengerichteter Monolog ist an einige Bedingungen gebunden. So ist ein Protagonist, der nicht in der Lage ist zu erzählen und stattdessen nur kurze Antworten gibt, nicht für eine solche Art der Darstellung geeignet. Außerdem ist ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Interviewer und dem Interviewten notwendig, sodass dieser seine Geschichte und Emotionen mit allen Details preisgibt. Dies ist nur durch eine lange und ausgiebige Feldforschung und Vorarbeit möglich. Da der Handlungsverlauf und der Erzählfluss durch die Fragen des Interviewers nicht unterbrochen werden, ist diese Darstellung für den Zuschauer sehr ansprechend und wird häufig von den Filmemachern verwendet.
IM TOTEN WINKEL – HITLER´S SEKRETÄRIN
(André Heller und Othmar Schmiderer, D 2002)
ICH HAB AUCH KOPF, ICH HAB AUCH FUß ...
(Bianka Bertram, D 2010)
Außengerichteter handlungsorientierter Monolog
Der „außengerichtete handlungsorientierte Monolog“ setzt einen Protagonisten ins Bild, der einer Handlung nachgeht. Die Interviewsituation ist kaum noch zu erkennen, weil die Aussagen des Protagonisten während dieser Handlung getätigt werden. Ballhaus (2003: 35) spricht deshalb von einer erleichterten Situation: „Der Sprachcode entspricht in einer am Alltag orientieren Handlungs- und Gesprächssituation eher dem aus dem Alltag vertrauten Muster.“ Der Protagonist kann sich in seiner Tätigkeit versenken und gibt so unter Umständen mehr Information preis als bei einer nicht handlungsorientierten Interviewform, da das Filmen eventuell sehr weit in den Hintergrund gerät. Darüber hinaus vermittelt der Protagonist durch seine Tätigkeit eine Kompetenz, die das Erzählte unterstreichen und authentisch wirken lassen. Die filmische Umsetzung und die technischen Anforderungen entsprechen dem außengerichteten Monolog, jedoch wird diese Form der Darstellung von Interviews im Dokumentarfilm nur selten verwendet. Dies lässt sich vielleicht an einem bestimmten Nachtteil der Interviewform festmachen: Die Blickrichtung des Protagonisten. Wenn der Protagonist seiner Handlung nachgeht, wendet er häufig seinen Blick von der Kamera ab. Dies ist ein für den Zuschauer ungewohntes Bild.
DUKA´S DILEMMA
(Jean Lydall und Ivo Strecker, D 2002)
SHOAH
(Claude Lanzmann, F 1985)
Innengerichteter Dialog
Beim „innengerichteten Dialog“ werden zwei oder mehr Personen durch Impulse zum selbständigen Dialog angeleitet. Der Interviewer taucht im Gespräch nicht mehr auf. Der Interviewer sollte im Voraus also klären welche Themen angesprochen werden. Das Interview scheint nicht mehr als Vermittlungsakt, sondern richten sich an eine imaginäre außenstehende Person. Bei guter Vorbereitung und Interviewführung entsteht der Eindruck, dass ein zufällig stattfindendes Gespräch gefilmt und die Filmhandlung nicht unterbrochen wird. Es wird also eine lebendige Innenperspektive gezeigt, bei der Erinnerungen und Träume wach und erzählt werden sollen. Die Protagonisten müssen so ins Gespräch kommen, dass das Kamerateam vergessen wird. Es handelt sich bei dieser Interviewform also um ein inszeniertes Direct Cinema mit dem Anspruch auf authentische Inszenierung. Die filmische Umsetzung und die technische Anforderung hängen von der Anzahl der Personen und der Positionierung dieser zueinander ab. So kann ein kleines Team mit einem einzelnen Kameramann bereits genügen, aber es können auch mehrere Kameras nötig sein. Diese Darstellungsform eines Interviews wird eher selten verwendet. Einzige Ausnahme ist das Direct Cinema, wobei es sich dabei bestenfalls nicht um inszenierte Interviews handelt.
ARBEITSWELTEN
(Klaus Wildenhahn, D 2010)
BETWEEN THE LINES – INDIA´S THIRD GENDER
(Thomas Wartmann, D 2005)
Das Besondere an diesem Beispielt ist, dass Thomas Wartmann (Filmemacher) eine Fotografin mit der Kamera begleitet und ihre Gespräche mit den Hijras aufzeichnet.
Innengerichteter handlungsorientierter Dialog
Der „innengerichtete handlungsorientierte Dialog“ beschreibt einen innengerichteten Dialog von Protagonisten, die in Aktion sind. Der Fortlauf der Filmerzählung erscheint noch selbstverständlicher, da das Gespräch während einer alltagsorientierten Handlung stattfindet. Die Protagonisten vermitteln somit wie bei allen handlungsorientieren Formen Kompetenz. In allen weiteren Punkten entspricht diese Form dem „innengerichteten Dialog“. Diese Form wird eher selten verwendet. Dies lässt sich vielleicht an einem bestimmten Nachtteil der Interviewform festmachen: Die Blickrichtung des Protagonisten. Wenn der Protagonist seiner Handlung nachgeht, wendet er häufig seinen Blick von der Kamera ab. Dies ist ein für den Zuschauer ungewohntes Bild.
WAS LEBST DU?
(Bettina Braun, D 2005)
SCHAMANEN IM BLINDEN LAND - NEU ANS LICHT GEHOLT
(Michael Oppitz, D 2008)
Mischform: Innen/Außengerichteter Dialog
Eine von vielen möglichen Mischformen ist der „Innen/Außengerichtete Dialog“. Ausgangspunkt hierfür ist ein inszeniertes Gespräch zwischen den Protagonisten, bei dem der Interviewer aber explizit oder implizit von den Protagonisten einbezogen wird, ohne dass er am Gespräch teilnimmt. Die Gesprächseröffnung sollte nur durch Stichworte und Erzählimpulse erfolgen und zu einem selbstständigen Dialog der Protagonisten anregen, die sich aber zwischendurch auf auch Außenstehende beziehen. Somit ist einerseits das Gespräch in die Handlung eingebettet und unterbricht diese nicht, andererseits findet ein Vermittlungsakt nach außen statt und die Handlung wird unterbrochen. Bei einer gelungenen Interviewführung können nun alle Vorteile der innen- und außengerichteten Darstellungsformen von Interviews zur Geltung kommen. Es ist auch eine handlungsorientierte Variante dieser Darstellungsform möglich.
DUKA´S DILEMMA
(Jean Lydall und Ivo Strecker, D 2002)
DIE KIK-STORY: DIE MIESEN METHODEN DES TEXTILDISCOUNTERS
(Christoph Lütgert, D 2010)
Wallraffen
Das Wallraffen ist benannt nach Günther Wallraff, der in seinen Filmen Unter Null und Schwarz auf Weiß versteckte Interviews führt, die er mit seinem Auftreten, Aussehen und seinen Au ssagen provoziert. Insofern gibt er Erzählimpulse, auf welche die Personen reagieren. Wallraff ist meist selbst im ON zu sehen, teilweise trägt er jedoch eine Knopflochkamera, sodass nur sein Gegenüber im Bild erscheint. Somit ist Wallraff Teil der Filmhandlung und der Erzählfluss wird nicht unterbrochen. Seine Interviews sind dialogisch angelegt, jedoch ist die Interviewsituation als solche erst in der filmischen Realität zu erkennen. So gibt sich Wallraff bei der Recherche für seinen Film Unter Null als Obdachloser aus und schleust sich in Obdachlosen-Unterkünfte ein, um dort einige Leute zu interviewen. Ethisch fraglich hierbei ist die Tatsache, dass Wallraff nicht das Einverständnis der Interviewten einholt, sie filmen zu dürfen. Wäre er hingegen anders vorgegangen, hätte er niemals die Art von Reaktionen erhalten können, die seine Filme auszeichnen.
UNTER NULL
(Günter Wallraff, D 2009)
Außengerichteter handlungsorientierter Impuls
Der außengerichtete nonverbale Handlungsimpuls ist immer thematisch passend und kann in verschiedenen Formen auftreten. Dazu gehört das Vorspielen von Tonbändern sowie Filmszenen und Zeigen von Fotos, es sind aber auch weitere Möglichkeiten denkbar. Die Interaktion besteht bei diesem Interviewtyp in der Intention des Filmemachers durch den nonverbalen Handlungsimpuls Reaktionen zu erzeugen. Die Interviewsituation ist als solche erkennbar. Interviews dieser Art gibt es zu Beginn des Films Die Les Humphries Singers von Andreas Fischer. Hier werden den Interviewten anstelle von Fragen Musikaufnahmen vorgespielt, welche bewirken, dass die Befragten erzählen oder mitsingen. Im Film Im toten Winkel - Hitlers Sekretärin (Traudl Junge) von Othmar Schmiderer und André Heller besteht der nonverbale Handlungsimpuls aus einem älteren Interview mit Traudl Junge selbst, das ihr vorgeführt wird. Dies bewirkt, dass Traudl Junge Bezug nehmend auf ihr älteres Interview zu erzählen beginnt.
DIE LES HUMPHRIES SINGERS – AUFSTIEG UND FALL EINER POPLEGENDE
(Andreas Fischer, D 2007)
SCHAMANEN IM BLINDEN LAND - NEU ANS LICHT GEHOLT
(Michael Oppitz, D 2008)
Autoethnography
Autoethnografie umfasst als Methode sowohl autobiografische als auch ethnografische Inhalte. Zur Autobiografie zählen das Festhalten der eigenen Vergangenheit und Erfahrungen sowie deren Analyse. Ethnografie hingegen meint die “teilnehmende Beobachtung” “kultureller Praktiken” und Erforschen von u.a. Werten und Erfahrungen anderer Personen. Besondere Beachtung wird hierbei “herausragenden Ereignissen” geschenkt. Demnach beschäftigen sich Autoethnografen mit Besonderheiten ihrer eigenen Vergangenheit, die z.B. dadurch entstehen, dass sie eine „besondere kulturelle Identität“ haben (C. Ellis, T. E. Adams, A. P. Bochner, 2011). Ein gutes Filmbeispiel für diese Form ist Tarnation von Jonathan Caouette sowie Grizzly Man von Werner Herzog . Autoethnografisch sind im Film Grizzly Man nur die Sequenzen von Treadwell selbst, der filmische Rahmen von Herzog entspricht anderen, bereits besprochenen Formen. In Tarnation erzählt Jonathan Caouette mithilfe von zeitgenössischen Kameraaufnahmen und selbst gedrehten Videos aus seiner Kindheit und Jugend, seine Lebensgeschichte und damit auch die seiner Familie. Daher gibt es nicht nur Aufnahmen von ihm selbst, sondern auch von seinen Großeltern und seiner Mutter. In einigen Szenen, wendet er sich direkt an die Kamera, in sehr emotionalen Momenten, ist die Kamera einfach „dabei“, z.B. dort, wo Caouette von der Vergiftung seiner Mutter erfährt. Caouette ist hier im Close-u p (Großaufnahme seines Gesichts) zu sehen, während er telefoniert und in Tränen ausbricht. Er nimmt auch seine Großeltern und seine Mutter mit der Kamera auf, indes stellt er ihnen Fragen zur Vergangenheit und den Gegebenheiten, die zum Unfall seiner Mutter führten.
Bei dieser Interview-Form ist die Kamera der Katalysator, welcher die Selbstrepräsentation auslöst. Der Interviewer ist somit gleich dem Interviewten, der das Publikum über die Kamera adressiert. Somit entsteht ein Monolog und ein technisches Team ist nicht unbedingt notwendig. Der „Selbstdarsteller“ ist Mittelpunkt seiner Handlung, es können aber trotzdem weitere Personen darin auftauchen. Da der Interviewer sich selbst repräsentiert und die Kamera direkt anspricht, besitzt diese Form ein hohes Maß an Selbstreflexivität.
TARNATION
(Jonathan Caouette, USA 2003)
GRIZZLY MAN
(Werner Herzog, USA 2005)
SUPERSIZE ME
(Morgan Spurlock, USA 2004)
Ero-episches Gespräch
Das Ero-epische Gespräch ist ein Begriff, der von Roland Girtler in Anlehnung an Homers Odyssee geprägt wurde. Die Begriffsbestandteile lassen sich auf die griechischen Wörter eromai = fragen und Epos = Erzählung/Nachricht zurückführen (Girtler, 2001: 150). Diese Begriffe werden in der Odyssee immer im Zusammenhang mit Erläuterungen von Details aus der Vergangenheit und dem Alltagsleben verwendet. Erzählungen finden bei Homer, und hierauf legt Girtler Wert, in freundschaftlicher Atmosphäre, in der sich alle Anwesenden wohlfühlen, statt (ebenda 151). Letzteres ist für Girtler grundlegend für die Situation, in welche das Ero-epische Gespräch eingebettet sein soll. Charakteristisch ist für dieses Gespräch, dass es keinen Frageleitfaden gibt, da sowohl der Forscher als auch sein Gesprächspartner Fragen stellen und erzählen (ebd. 147). Als Gesprächsbeginn soll der Forscher von sich selbst erzählen (ebd. 152), während sich Fragen aus der Situation heraus ergeben (ebd. 149). Aussagen dürfen nicht erzwungen werden (ebd. 153), da dies dem Prinzip der Gleichheit von Forscher und Gesprächspartner widersprechen würde (ebd. 147). Das Prinzip der Gleichheit und das Fehlen eines Frageleitfadens stehen dem herkömmlichen Begriff von Interview entgegen, was von Girtler auch beabsichtigt ist. Dies ist im Zusammenhang mit Filmen interessant, in denen die Begegnung zwischen Filmendem und den Gefilmten auf dieser oder einer ähnlichen Basis stattfindet.
DIE SPIELWÜTIGEN
(Andreas Veiel, D 2004)
GERNSTLS REISEN - AUF DER SUCHE NACH DEM GLÜCK
(Franz X. Gernstl, D 2006)
Anonymes Interview
Der Ausdruck Anonymes Interview bezeichnet das unkenntlich machen der Identität der Interviewten im Film mit gestalterischen Mitteln. Wenn das Nichterscheinen des Interviewers im Bild relevant ist, so muss auch über das Nichterscheinen des Befragten nachgedacht werden. Ein Filmbeispiel zu dieser Form ist Cürük - The Pink Report von Ulrike Böhnisch. In diesem Film werden homosexuelle (u.a. ehemalige) Soldaten der türkischen Armee zu ihrer Situation in der Armee und der Gesellschaft interviewt. Einige der Interviewten möchten zu ihrem Schutz vor der Kamera anonym bleiben. Das Besondere dieser Interviews liegt in der Umsetzung der Anonymisierung. Anstatt die Interviewten nur von hinten aufzunehmen, zu verpixeln oder sie hinter eine Schattenwand zu setzen, entscheidet sich die Filmemacherin für Kameraeinstellungen bei denen die Hände der Interviewten oder nur die untere Gesichtshälfte mit dem Mund im Bild sind. So gibt es eine Szene, in der die Filmemacherin die Hände des Interviewten in den Fokus nimmt, während dieser erzählt. Der Interviewte knetet seine Hände, aus Nervosität?, Anspannung? und Unbehagen? während er von seinen Erfahrungen berichtet. Durch die Kameraeinstellung wird das Gesprochene noch aussagekräftiger und trotz der Anonymität wirkt die Aufnahme persönlich und der Interviewte unverwechselbar, authentisch.
CÜRÜK - THE PINK REPORT
(Ulrike Böhnisch, D 2001)
CÜRÜK - THE PINK REPORT
(Ulrike Böhnisch, D 2001)
Moore-Methode
Die Moore-Methode (oder Rouch-Methode) beschreibt eine Interviewsituation im Reporterstil, d.h. das Frage-Antwort-Schema ist auf kurze Beiträge ausgelegt und offen für eine dialogische Form. Der Interviewer eröffnet das Interview durch eine Konfrontation, sei es mit Fakten, Fotografien und sonstigen Dokumenten oder aber mit einer Handlung und direktem Ansprechen. Da die zu Interviewenden nicht auf diese Situation vorbereitet sind, bedeutet diese Vorgehensweise eine Arbeit ins Offene. Man weiß nicht, wie die Reaktion des Gegenüber ausfällt. In dieser Interview-Form ist der Interviewer Teil der Handlung und daher meistens mit dem Interviewten zusammen im ON zu sehen. Dies lässt einerseits auf Selbstreflexivität schließen, andererseits, weil der Interviewer auch Teil der Handlung ist, auch wieder nicht. Hier ist es nicht eindeutig zu entscheiden. Diese Art von Interview kann nur mit einem Team von Kameramann und Tonassistent ggf. noch weiteren Personen durchgeführt werden. Denn der Interviewer ist teilweise Mittelpunkt der Handlung und im ON zu sehen.
Beispiele für diese Form finden sich in Filmen von Michael Moore und Jean Rouch, nach denen diese Form benannt ist. In Jean Rouch's Chronique d'un été wird Passanten auf der Straße die Frage „Sind sie glücklich?“ gestellt. Die Interviewerin ist mit im Bild wie auch die Befragten. Häufig werden nur einsilbige Antworten gegeben oder die Leute wehren ab. Jedoch zeigt sich in einer Szene, wie sich ein Dialog zwischen einem Passanten und der Interviewerin entwickelt.
Im Film Bowling for Columbine ,Micheal Moore werden hintereinander mehrere Szenen gezeigt, in denen Moore in fremde Häuser eindringt, deren Haustüren nicht verschlossen sind. Auf diese Weise verwickelt er die zurecht irritierten Bewohner in ein Gespräch und befragt sie zu ihrer Einstellung, die sie dazu bringt ihre Haustüren nicht zu verschließen. ANzumerken ist, dass Moore und Rouch sich hinsichtlich der Ethik im filmischen Prozess unterscheiden. Moore verfolgt keine ethischen Richtlinien und stellt seine Interviewpartner bloß, um an Informationen zu gelangen. Rouch handelt im Sinne ethnologischer Forschung und respektiert die Grenzen seiner Interviewpartner: Wie und welche Daten werden erhoben und wie werden sie dargestellt?
ROGER AND ME
(Michael Moore, USA 1989)
BOWLING FOR COLUMBINE
(Michael Moore, CAN/USA/D 2002)
Literatur:
Ballhaus, Edmund, 2003: „Rede und Antwort. Antwort oder Rede? Interviewformen im kulturwissenschaftlichen Film.” In: Joachim Wossidlo, Ulrich Roters (Hrsg.): Interview und Film. Volkskundliche und Ethnologische Ansätze zu Methodik und Analyse. Waxmann, Münster/New York/München/Berlin.
Carolyn Ellis, Tony E. Adams & Arthur P. Bochner 2011: Autoethnography: An Overview. Forum: Qualitative Social Research. Volume 12, No. 1, Art. 10 – January 2011 <http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1589/3095#g4>20.11.11
Girtler, Roland 2001: Methoden der Feldforschung. Köln: Böhlaus. S. 147 -168.