Ausblick
Mit der wachsenden Verfügbarkeit von benötigter Hard- und Software für die Filmproduktion kann das Verhältnis zwischen Beobachter und Beobachtetem sich nachhaltig verändern, bis hin zur Singularität beider, wie Jonathan Caouettes TARNATION (USA 2003) und Werner Hezogs GRIZZLY MAN (USA 2005) beweisen. Beider Filme Grundstock bilden Aufnahmen, welche die Hauptpersonen der Filme selbst anfertigten. In welchen sie selbst wählten wie sie sich dargestellt sehen wollten, Subjekt und Objekt der dokumentarischen Arbeit verschmilzen.
Mit TARNATION arbeitet Caouette die bewegte Geschichte seiner Kindheit und Jugend, und somit zugleich seiner depressionskranken Mutter auf. Für sein Debüt verwendet Caouette nur Material, welches er im Laufe seines Lebens anhäufte. Mit vierzehn Jahren bekam er die erste Videokamera und dokumentierte von diesem Tag an sein Leben. Zu sehen sind nachbearbeitete Amateuraufnahmen eines Jugendlichen und jungen Erwachsenen, in denen die Mutter ebenso wie die Großeltern und Freunde, teils sehr widerwillig, in den verschiedensten Alltagssituationen ins Bild genommen werden, ebenso wie laienhafte Spielszenen. Oft spricht Caouette selbst in die Kamera über sein Momentanes Empfinden und schildert dem Zuschauer seine Gedanken. Der Film international ausgezeichnete Film ist quasi eine Nobudget Produktion, da Caouette sein über Jahre hinweg gefilmtes Material nutzte um es zu einer Biographischen Skizze zu komponieren.
GRIZZLY MAN handelt von dem Bärenforscher, Tierrechtler und passionierten Selbstdarsteller Timothy Treadwell, dem durch seine Nähe zu den Bären unvergleichliche Aufnahmen dieser Tiere gelangen und der letztlich samt seiner Freundin von ihnen verspeist wurde. Herzog verwendet großteils von Treadwell selbst produziertes Material. Treadwell spricht im Stile vieler Tierfilme teils bis zur Überheblichkeit selbstbewusst in die Kamera. Kontextualisiert wird das nachgelassene Filmmaterial von Herzog mit weiteren Interviews und der Kontemplation über seinen eigenen Zugang und seinen Umgang mit dem gefundenen Material.
Ein sowohl vom Produktionshergang als auch von der Vertriebsweise her interessante und vielleicht wegweisende Arbeiten sind das INTEVIEW-PROJECT Austin Lynch´s und Jason S.´s(USA 2010) und das INTERVIEW PROJECT GERMANY (2011). Hier diente das Internet als einziges Distributionsmedium. Beide Projekte werden Präsentiert von Austins Vater David Lynch, der zu Beginn eines jeden Kurzinterviews die im Folgenden zu sehende Person kurz vorstellt, und sind über dessen Homepage abrufbar. Die beiden Filmer fuhren durch die USA bzw. Deutschland um zufällige Begegnungen mit Menschen Festzuhalten. Auf der Straße getroffene Menschen erzählen in den jeweils circa einstündigen Interviewskizzen über ihr Leben. Die Clips zeigen die Protagonisten in der Umgebung in welcher sie angetroffen wurden. Die fünfzig Gespräche im INTERVIEW PROJECT GERMANY wurden innerhalb eines Monats in vielen teilen Deutschlands gedreht. Ohne Drehplan zog das kleine Team los und warf täglich Münzen, um die nächste Station zu definieren, die Fragen waren offen und zum Erzählen anregend. Die Protagonisten sind sämtlich im außengerichteten Monolog dargestellt. In der Postproduktion wurden die einzelnen Clips nach und nach online verfügbar gemacht.(Lynch o.A.; Schön 2010) Die kleinen Filme zeigen natürlich bloß eine Momentaufnahme und sind von anderer Qualität als lang vorbereitete Expertengespräche. Es mag zwar für den Sohn eines David Lynchs ohne weiteres möglich sein, die gemachten Aufnahmen kostenlos zur Verfügung zu stellen, doch stehen meisten Dokumentarfilmer in keine solch materiell günstigen Position. Da die wenigsten Filme sich gewinnbringend vermarkten lassen, sind Dokumentaristen darauf angewiesen von der Gesellschaft, welche sie zeigen, oder welcher sie Aspekte der Welt zeigen, für ihre Arbeit entlohnt zu werden und außerhalb eines Wettlaufs um Quoten konzentriert arbeiten zu können.
Der Dokumentarfilm in Deutschland hat eine schwere Position, wie viele der auf dieser Website zu sehenden Interviews mit zeitgenössischen Regisseuren des Nonfiktionalen Films belegen. Die Zahl der Filmhochschulen ist gestiegen und mit ihr die Zahl der Absolventen, welche im Dokumentarfilmbereich tätig werden wollen. Bei zugleich sinkenden Ausgaben der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten für hochwertige dokumentarische Arbeiten, welche lange Recherchen und viel Interviewmaterial voraussetzen, werden die Finanzierungsbedingungen und der damit verbundene Wettbewerb um Geldmittel verschärft. Die Privaten Sender haben nur wenig Interesse an der unsicheren Investition in dokumentarische Werke, wenn zugleich zuschauerstarke Fiktionale Inhalte, Dokusoaps und Infotainment produziert werden können, deren Werbeeinnahmen sicher sind. ARD und ZDF geben im unnötigen – da nicht auf Werbefinanzierung angewiesen – Wettbewerb mit den Privaten um Einschaltquoten einen Großteil des Etats für Sportprogramme und Hochglanzunterhaltungsprogramme aus anstatt ihrem Bildungsauftrag nachzukommen. Die Gelder, welche das öffentlich-rechtliche Fernsehen zur Verfügung stellt reichen oft nicht aus für eine hochwertige Produktion, zusätzliche Gelder müssen von staatlichen und Privaten Filmstiftungen erfragt werden. Oft geht mit der Filmproduktion ein aufwendiges Antragstellen einher. Für viele Dokumentarfilmer ist es nicht mehr möglich allein von einer Arbeit zu leben.(Agneskircher und Langer 2012) Während also die technischen Möglichkeiten besser werden, wird es zunehmend schwieriger als Regisseur professionell an Nonfiktionalen Filmen auf gewissenhafter Recherchebasis zu arbeiten und davon ein Leben bestreiten zu können. Alternativen zum momentanen System könnte eine Neugestaltung der Rundfunkgebührenverteilung unter Einbeziehung von Onlineinhalten darstellen. Sogenannte Crowdfunding-Finanzierung wie beispielsweise von Thomas Fricke für das DVD-Release seines letzten Films, DIE MONDVERSCHWÖRUNG (2011), gestaltet sich im Gegensatz zu fiktionalen Filmen eher schwierig.