Ausführlicher Text zu den Interviewtypen
1. Zum Einstieg
Im Folgenden soll eine Typologie der Interviewformen entwickelt werden. Diese kann und will keine erschöpfende Auflistung aller möglichen Varianten von Interviews im non-fiktionalen Film sein, sondern versteht sich als idealisiertes Modell, als methodisches Werkzeug. Ein Modell schafft Ordnung, dort wo die Vielfalt der Erscheinungen eine solche zunächst nicht zulässt oder zumindest nicht erkennen lässt. Sein Wert besteht also darin uns Erklärungsstrukturen für bestimmte Phänomene zu liefern und uns damit eine gewisse Verfügbarkeit oder Kontrolle über die beschriebenen Dinge zu verschaffen. Erst dadurch, dass wir Dinge in Begriffe packen (man beachte die Nähe zu „greifen“, „befassen“, „anfassen“) wird es uns möglich, mit diesen umzugehen. Das jedoch zum Preis der Reduktion, der Vereinfachung und Auslassung. Ein Modell wählt eine begrenzte Menge an wesentlich erscheinenden Aspekten aus und entwickelt aus diesen einen Maßstab für die Realität , eine Art Idealtypus.
Die hier vorgestellte Typologie baut auf den von Edmund Ballhaus (Ballhaus 2003) vorgeschlagenen Formen auf und ergänzt diese durch einige weitere. Dabei wurde Ballhaus Modell mit einem Korpus von über 30 non-fiktionalen Filmen mit starkem Interviewanteil verglichen und darauf geachtet, ob nicht Muster hervortreten, die von diesem nicht abgedeckt werden. Um einen Typus zu begründen darf ein bestimmtes Muster nicht nur einmal auftauchen, sondern muss sich bewährt haben. Das bedeutet, dass sich ein neuer Typ nicht nur durch seine Unterschiedlichkeit zu den schon bestehenden Typen hervortut, sondern auch durch seine relative Häufigkeit. Wenn sich ein bestimmtes Muster, eine bestimmte Vorgehensweise bei der Durchführung und Darstellung von Interviews als Konvention etabliert zu haben scheint, und diese Art des Vorgehens nicht mit den schon bestehenden Formen zusammenfällt, ist es legitim von einem neuen Typ zu sprechen.
2. Was sonst noch gilt
Im Folgenden sollen verschiedene Kriterien genannt werden, die Interviews in ihrer Konzeption, Durchführung und abschließenden Form beeinflussen, jedoch die im nächsten Abschnitt vorgeschlagenen Typen nicht erweitern, sondern vielmehr variieren. Da ihre Berücksichtigung dennoch unerlässlich ist, für die Art von Filmen und Interviews, die man machen möchte oder überhaupt machen kann, sollen sie hier kurz angerissen werden.
2.1 Wer spricht zu wem über was?
Bei der Durchführung eines Interviews sind mehrere Beziehungen zu beachten, die je nach ihrer Art Einfluss darauf haben, was gesagt wird und ob überhaupt ein Interview zustande kommt. Es gilt zu fragen, in welcher Beziehung der Interviewer zur abgefragten Thematik steht und welchen Zugang der Befragte zu derselben hat. Auch das Verhältnis zwischen Interviewer und Intervietem ist von Bedeutung. Alter, Geschlecht, sozialer Hintergrund und Hautfarbe (unter anderem) sind Faktoren die maßgeblich das Gelingen und die endgültige Form eines Interviews beeinflussen. Auch wenn all diese Dinge im später verwendeten und gezeigten Interview nicht unbedingt offensichtlich werden, müssen sie doch immer mitgedacht und eingeplant werden.
2.2 Umstände des Drehs
Wo, wann und unter welchen Bedingungen ein Interview geführt und gedreht wird beeinflusst im großen Umfang, was dabei schließlich herauskommt. Findet das Interview an einem für den Befragten vertrauten oder nicht vertrauten Ort statt? War das Interview geplant oder kam es spontan dazu? Arbeitet der Interviewer alleine oder findet die ganze Sache im Beisein einer Filmcrew statt? Wie gehen die Menschen mit der Präsenz der Kamera um? Je nachdem wie die Antworten auf diese und ähnliche Fragen ausfallen, verändert sich die Art des geführten Interviews und werden unterschiedliche Reaktionen oder Antworten zu erlangen sein. [Jean Lydall spricht in dem mit ihr für diese Seite geführten Interview ausführlich über die Bedeutung, die die Umstände des Drehs für den im Entstehen begriffenen Film haben]
2.3 Platz und Aufgabe im Gesamtfilm
Hier lassen sich drei mögliche Ebenen unterscheiden. Ein Interview kann ganz zu Beginn der Entstehung eines Filmes, in der Recherche- und Konzeptionsphase wichtig sein, wenn die Filmemacher mit den Menschen, über die sie einen Film machen wollen, sprechen, um in Erfahrung zu bringen, was und wo gefilmt werden sollte oder welche Aspekte es im späteren Film hervorzuheben gilt. Diese Interviews müssen nicht im späteren Film erscheinen, sondern liefern in erster Linie Ideen für dessen spätere Form.
Dann können Interviews genutzt werden, um einem Film ein „menschlicheres Gesicht“ zu verleihen, das heißt die Botschaft eines Filmes durch das Heranziehen von Äußerungen von Menschen zu verstärken oder glaubhafter zu machen.
Zuletzt können ein Interview oder Interviews den Kern des ganzen Filmes oder sogar den Film selber bilden. Filme wie Im toten Winkel – Hitlers Sekretärin von André Heller und Othmar Schmiderer oder Cürük-The Pink Report von Bettina Braun zeigen dies recht eindrücklich.
2.4 Technische Gestaltungsmöglichkeiten
In diesem Zusammenhang ist besonders die lichttechnische Gestaltung zu erwähnen. Mit Licht lassen sich laut Achim Dunker (Dunker 2008, 15-20) 5 Dinge erreichen: mit Licht wird Räumlichkeit dargestellt und Strukturen hervorgehoben, es eignet sich zur Modulation, d.h. zum bestimmenden Moment der Bildkomposition, so dass Licht und Schatten das eigentliche Objekt des Bildes in den Hintergrund treten lassen, außerdem lässt sich mit ihm ein bestimmte Stimmung schaffen und es wird zu Charakterisierung verwendet, also bei der Darstellung bestimmter Rollen (Bsp.: weibliche Charaktere werden anders beleuchtet als männliche). Allein durch Licht lässt sich so schon eine Vielzahl an Variationen der Aussage und Darstellung erreichen. Ganz davon abgesehen, dass ohne Licht nicht mal ein Bild zu Stande käme.
Darüber hinaus beeinflusst die Anwesenheit der Scheinwerfer und das durchaus grelle, manchmal blende Licht die Befragten, aber auch die Interviewer und gehört damit auch zu den in Punkt 2.2 genannten Umständen des Drehs
Andere Faktoren, die auf der technischen Seite mit einzubeziehen sind, sind die Verfügbarkeit und Qualität der Aufnahmegeräte, sowohl für Bild als auch Ton, sowie deren Größe. Für Interviews, wie Günther Wallraff sie in seinen Filmen führt, ist es z.B. unerlässlich kleine und leicht zu verbergende Mikrofone und Kameras zu haben.
Hinzu kommen auch noch die Gestaltungsmöglichkeiten, die man hat, durch den Einsatz von beispielweise Blue- oder Greenscreens, wie sie für den Großteil der Interviews auf dieser Seite verwendet wurden. Generell lässt sich sagen, dass je mehr Technik für ein Interview zum Einsatz kommt, dieses wesentlich zeitaufwendiger und seine Atmosphäre formeller wird, sich dafür jedoch die Möglichkeiten der Bildgestaltung verbessern.
3. Typologie
3.1 Außengerichteter offener Dialog
Der „außengerichtete offene Dialog“ kann durch wenige zentrale Merkmale gekennzeichnet werden: Wissenschaftler (=Interviewer) ist sichtbar, Fragestellungen, die auf einen Dialog abzielen und eine hohe Selbstreflexivität. Die Aussagen des Interviewten entstehen nicht aus einer Handlung heraus, sondern sind lediglich die Reaktionen auf die Fragen des Wissenschaftlers und sind somit ein Vermittlungsakt. Grundlage sind ein themenzentriertes Interview mit Frageleitfaden oder halboffene Fragestellungen. Ballhaus kritisiert bei dieser Interviewform die Störung des Handlungsflusses der Erzählung: „Eine zuvor in sich geschlossene Handlung, an der Menschen in unterschiedlichen Funktionen teilhaben, eine Handlung jedenfalls, bei der wir alle auch Wissenschaftler und Drehteam, lediglich Beobachter sind, wird mit dem Interviewer aufgebrochen und in eine Vermittlungsebene übertragen, die sich schon durch ihre elaborierte Sprach- und Bildform besonders wichtig nimmt. Diese Vermittlung findet als gemeinsame Übertragungsanstrengung der Interviewpartner statt, vom Filmgeschehen ist sie weitgehend entfremdet.“ (Ballhaus 2003: 23) Ebenfalls kritisiert er die vorhandene und thematisierte Asymmetrie zwischen Wissenschaftler und Interviewtem. Die äußere Form des Interviews lässt also Rückschlüsse auf die Beziehung der Interviewpartner zu. Im Fokus des Films bei dieser Interviewform steht die Beziehung zwischen Filmemacher und Interviewtem. Die filmische Umsetzung gestaltet sich dabei schwierig und die technischen Anforderungen sind hoch, da komplexe Abbildungsprozesse geschehen müssen und mehrere Menschen sprechen. Idealerweise werden deshalb zwei Kameras verwendet. Aufgrund dieser Nachteile wird diese Interviewform eher selten verwendet. Ballhaus hält diese für unmodern, da sie den heutigen Filmstandards nicht mehr entspricht (Ballhaus 2003: 43f).
3.2 Außengerichteter verdeckter Dialog
Der „außengerichtete verdeckte Dialog“ entspricht weitestgehend dem außengerichteten offenen Dialog. Der Interviewer ist jedoch nicht sichtbar und stellt die Fragen meist aus dem Kamerahintergrund. Die Interviewsituation ist weiterhin erkennbar, das Frage-Antwort-Schema dialogisch angelegt und Grundlage sind ein themenzentriertes Interview mit Frageleitfaden oder halboffene Fragestellungen. Die Folgen sind eine geringere Selbstreflexivität und eine Verschiebung des Machtverhältnisses (Interviewter rückt in den Vordergrund) gegenüber dem außengerichteten offenen Dialog. Der Zuschauer scheint mit dem Filmemacher ganz nah dran zu sein. Vermutlich sind die Redebeiträge der Protagonisten eher kurz, da sie auf das Feedback des Filmemachers warten. Die filmische Umsetzung ist einfacher, da ein kleines Team oder auch nur ein einzelner Kameramann genügen. Die technische Anforderung hingegen steigt an, da diese durch wenige Personen bewältigt werden müssen. Ballhaus betrachtet diese Form jedoch als inkonsequent: „[…] wenn eine Entscheidung gegen den offenen Dialog im Film fällt, dann sollte sie konsequenter ausfallen[…].“ (Ballhaus 2003: 26) Es handelt sich hierbei ebenfalls um eine eher selten verwendete Interviewform.
3.3 Außengerichteter Monolog
Der „außengerichtete Monolog“ richtet sich an einen imaginären Außenstehenden (bspw. den Zuschauer und Rezipienten). Der Frageleitfaden besteht idealerweise nur noch aus Stichworten und Erzählimpulsen. Die Interviewsituation ist häufig nicht mehr erkennbar, da der Protagonist alleine im Bild ist und die Antworten als selbstständige Erzählung funktionieren. Die für die Handlung und die Botschaft des Films scheinbar überflüssigen Fragen und die Anwesenheit des Forschers werden gestrichen und der Protagonist und seine Erzählung werden zum zentralen Element des Films. Folglich ist die Selbstreflexivität nur gering. Die filmische Umsetzung ist hierbei auch mit einem kleinen Team oder einem einzelnen Kameramann möglich. Die Darstellung des Interviews im Film als ein außengerichteter Monolog ist an einige Bedingungen gebunden. So ist ein Protagonist, der nicht in der Lage ist zu erzählen und stattdessen nur kurze Antworten gibt, nicht für eine solche Art der Darstellung geeignet. Außerdem ist ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Interviewer und dem Interviewten notwendig, sodass dieser seine Geschichte und Emotionen mit allen Details preisgibt. Dies ist nur durch eine lange und ausgiebige Feldforschung und Vorarbeit möglich. Da der Handlungsverlauf und der Erzählfluss durch die Fragen des Interviewers nicht unterbrochen werden, ist diese Darstellung für den Zuschauer sehr ansprechend und wird häufig von den Filmemachern verwendet.
3.4 Außengerichteter handlungsorientierter Monolog
Der „außengerichtete handlungsorientierte Monolog“ setzt einen Protagonisten ins Bild, der einer Handlung nachgeht. Die Interviewsituation ist kaum noch zu erkennen, weil die Aussagen des Protagonisten während dieser Handlung getätigt werden. Ballhaus (2003: 35) spricht deshalb von einer erleichterten Situation: „Der Sprachcode entspricht in einer am Alltag orientieren Handlungs- und Gesprächssituation eher dem aus dem Alltag vertrauten Muster.“ Der Protagonist kann sich in seiner Tätigkeit versenken und gibt so unter Umständen mehr Information preis als bei einer nicht handlungsorientierten Interviewform, da das Filmen eventuell sehr weit in den Hintergrund gerät. Darüber hinaus vermittelt der Protagonist durch seine Tätigkeit eine Kompetenz, die das Erzählte unterstreichen und authentisch wirken lassen. Die filmische Umsetzung und die technischen Anforderungen entsprechen dem außengerichteten Monolog, jedoch wird diese Form der Darstellung von Interviews im Dokumentarfilm nur selten verwendet. Dies lässt sich vielleicht an einem bestimmten Nachtteil der Interviewform festmachen: Die Blickrichtung des Protagonisten. Wenn der Protagonist seiner Handlung nachgeht, wendet er häufig seinen Blick von der Kamera ab. Dies ist ein für den Zuschauer ungewohntes Bild.
3.5 Innengerichteter Dialog
Beim „innengerichteten Dialog“ werden zwei oder mehr Personen durch Impulse zum selbständigen Dialog angeleitet. Der Interviewer taucht im Gespräch nicht mehr auf. Der Interviewer sollte im Voraus also klären welche Themen angesprochen werden sollen. Das Interview scheint nicht mehr als Vermittlungsakt, sondern richten sich an eine imaginäre außenstehende Person. Bei guter Vorbereitung und Interviewführung erscheint der Eindruck, dass ein zufällig stattfindendes Gespräch gefilmt wird und die Filmhandlung nicht unterbrochen wird. Es wird also eine lebendige Innenperspektive gezeigt, bei der Erinnerungen und Träume wach und erzählt werden sollen. Die Protagonisten müssen so ins Gespräch kommen, dass das Kamerateam vergessen wird. Es handelt sich bei dieser Interviewform also um ein inszeniertes Direct Cinema mit dem Anspruch auf authentische Inszenierung. Die filmische Umsetzung und die technische Anforderung hängen von der Anzahl der Personen und der Positionierung dieser zueinander ab. So kann ein kleines Team mit einem einzelnen Kameramann bereits genügen, aber es können auch mehrere Kameras nötig sein. Diese Darstellungsform eines Interviews wird eher selten verwendet. Einzige Ausnahme ist das Direct Cinema, wobei es sich dabei bestenfalls nicht um inszenierte Interviews handelt.
3.6 Innengerichteter handlungsorientierter Dialog
Der „innengerichtete handlungsorientierte Dialog“ beschreibt einen innengerichteten Dialog von Protagonisten, die in Aktion sind. Der Fortlauf der Filmerzählung erscheint noch selbstverständlicher, da das Gespräch während einer alltagsorientierten Handlung stattfindet. Die Protagonisten vermitteln somit wie bei allen handlungsorientieren Formen Kompetenz. In allen weiteren Punkten entspricht diese Form dem „innengerichteten Dialog“. Diese Form wird eher selten verwendet. Dies lässt sich vielleicht an einem bestimmten Nachtteil der Interviewform festmachen: Die Blickrichtung des Protagonisten. Wenn der Protagonist seiner Handlung nachgeht, wendet er häufig seinen Blick von der Kamera ab. Dies ist ein für den Zuschauer ungewohntes Bild.
3.7 Mischform: Innen/Außengerichteter Dialog
Eine von vielen möglichen Mischformen ist der „Innen/Außengerichtete Dialog“. Ausgangspunkt hierfür ist ein inszeniertes Gespräch zwischen den Protagonisten, bei dem der Interviewer aber explizit oder implizit von den Protagonisten einbezogen wird, ohne dass er am Gespräch teilnimmt. Die Gesprächseröffnung sollte nur durch Stichworte und Erzählimpulse erfolgen und sollte zu einem selbstständigen Dialog der Protagonisten anregen, die sich aber zwischendurch auf auch Außenstehende beziehen. Somit ist einerseits das Gespräch in die Handlung eingebettet und unterbricht diese nicht, andererseits findet ein Vermittlungsakt nach außen statt und die Handlung wird unterbrochen. Bei einer gelungenen Interviewführung können nun alle Vorteile der innen- und außengerichteten Darstellungsformen von Interviews zur Geltung kommen. Es ist auch eine handlungsorientierte Variante dieser Darstellungsform möglich.
3.8 Wallraffen
Das Wallraffen ist benannt nach Günther Wallraff, der in seinen Filmen Unter Null und Schwarz auf Weiß versteckte Interviews führt, die er mit seinem Auftreten, Aussehen und seinen Aussagen provoziert. Insofern gibt er Erzählimpulse, auf welche die Personen reagieren. Wallraff ist meist selbst im ON zu sehen, teilweise trägt er jedoch eine Knopflochkamera, sodass nur sein Gegenüber im Bild erscheint. Somit ist Wallraff Teil der Filmhandlung und der Erzählfluss wird nicht unterbrochen. Seine Interviews sind dialogisch angelegt, jedoch ist die Interviewsituation als solche erst in der filmischen Realität zu erkennen. So gibt sich Wallraff bei der Recherche für seinen Film Unter Null als Obdachloser aus und schleust sich in Obdachlosen-Unterkünfte ein, um dort einige Leute zu interviewen. Ethisch fraglich hierbei ist die Tatsache, dass Wallraff nicht das Einverständnis der Interviewten einholt, sie filmen zu dürfen. Wäre er hingegen anders vorgegangen, hätte er niemals die Art von Reaktionen erhalten können, die seine Filme auszeichnen.
3.9 Außengerichteter handlungsorientierter Impuls
Der außengerichtete nonverbale Handlungsimpuls ist immer thematisch passend und kann in verschiedenen Formen auftreten. Dazu gehört das Vorspielen von Tonbändern sowie Filmszenen und Zeigen von Fotos, es sind aber auch weitere Möglichkeiten denkbar. Die Interaktion besteht bei diesem Interviewtyp in der Intention des Filmemachers durch den nonverbalen Handlungsimpuls Reaktionen zu erzeugen. Die Interviewsituation ist als solche erkennbar. Interviews dieser Art gibt es zu Beginn des Films Die Les Humphries Singers von Andreas Fischer. Hier werden den Interviewten anstelle von Fragen Musikaufnahmen vorgespielt, welche bewirken, dass die Befragten erzählen oder mitsingen. Im Film Im toten Winkel - Hitlers Sekretärin (Traudl Junge) von Othmar Schmiderer und André Heller besteht der nonverbale Handlungsimpuls aus einem älteren Interview mit Traudl Junge selbst, das ihr vorgeführt wird. Dies bewirkt, dass Traudl Junge Bezug nehmend auf ihr älteres Interview zu erzählen beginnt.
3.10 Autoethnography
Autoethnografie umfasst als Methode sowohl autobiografische als auch ethnografische Inhalte. Zur Autobiografie zählen das Festhalten der eigenen Vergangenheit und Erfahrungen sowie deren Analyse. Ethnografie hingegen meint die “teilnehmende Beobachtung” “kultureller Praktiken” und Erforschen von u.a. Werten und Erfahrungen anderer Personen. Besondere Beachtung wird hierbei “herausragenden Ereignissen” geschenkt. Demnach beschäftigen sich Autoethnografen mit Besonderheiten ihrer eigenen Vergangenheit, die z.B. dadurch entstehen, dass sie eine „besondere kulturelle Identität“ haben (C. Ellis, T. E. Adams, A. P. Bochner, 2011). Ein gutes Filmbeispiel für diese Form ist Tarnation von Jonathan Caouette sowie Grizzly Man. Autoethnografisch sind im Film Grizzly Man nur die Sequenzen von Treadwell selbst, der filmische Rahmen von Herzog entspricht anderen, bereits besprochenen Formen. In Tarnation erzählt Jonathan Caouette mithilfe von zeitgenössischen Kameraaufnahmen und selbst gedrehten Videos aus seiner Kindheit und Jugend, seine Lebensgeschichte und damit auch die seiner Familie. Daher gibt es nicht nur Aufnahmen von ihm selbst, sondern auch von seinen Großeltern und seiner Mutter. In einigen Szenen, wendet er sich direkt an die Kamera, in sehr emotionalen Momenten, ist die Kamera einfach „dabei“, z.B. dort, wo Caouette von der Vergiftung seiner Mutter erfährt. Caouette ist hier im Close-up (Großaufnahme seines Gesichts) zu sehen, während er telefoniert und in Tränen ausbricht. Er nimmt auch seine Großeltern und seine Mutter mit der Kamera auf, indes stellt er ihnen Fragen zur Vergangenheit und den Gegebenheiten, die zum Unfall seiner Mutter führten.
Bei dieser Interview-Form ist die Kamera der Katalysator, welcher die Selbstrepräsentation auslöst. Der Interviewer ist somit gleich dem Interviewten, der das Publikum über die Kamera adressiert. Somit entsteht ein Monolog und ein technisches Team ist nicht unbedingt notwendig. Der „Selbstdarsteller“ ist Mittelpunkt seiner Handlung, es können aber trotzdem weitere Personen darin auftauchen. Da der Interviewer sich selbst repräsentiert und die Kamera direkt anspricht, besitzt diese Form ein hohes Maß an Selbstreflexivität.
3.11 Ero-episches Gespräch
Das Ero-epische Gespräch ist ein Begriff, der von Roland Girtler in Anlehnung an Homers Odyssee geprägt wurde. Die Begriffsbestandteile lassen sich auf die griechischen Wörter eromai = fragen und Epos = Erzählung/Nachricht zurückführen (Girtler, 2001: 150). Diese Begriffe werden in der Odyssee immer im Zusammenhang mit Erläuterungen von Details aus der Vergangenheit und dem Alltagsleben verwendet. Erzählungen finden bei Homer, und hierauf legt Girtler Wert, in freundschaftlicher Atmosphäre, in der sich alle Anwesenden wohlfühlen, statt (ebenda 151). Letzteres ist für Girtler grundlegend für die Situation, in welche das Ero-epische Gespräch eingebettet sein soll. Charakteristisch ist für dieses Gespräch, dass es keinen Frageleitfaden gibt, da sowohl der Forscher als auch sein Gesprächspartner Fragen stellen und erzählen (ebd. 147). Als Gesprächsbeginn soll der Forscher von sich selbst erzählen (ebd. 152), während sich Fragen aus der Situation heraus ergeben (ebd. 149). Aussagen dürfen nicht erzwungen werden (ebd. 153), da dies dem Prinzip der Gleichheit von Forscher und Gesprächspartner widersprechen würde (ebd. 147). Das Prinzip der Gleichheit und das Fehlen eines Frageleitfadens stehen dem herkömmlichen Begriff von Interview entgegen, was von Girtler auch beabsichtigt ist. Dies ist im Zusammenhang mit Filmen interessant, in denen die Begegnung zwischen Filmendem und den Gefilmten auf dieser oder einer ähnlichen Basis stattfindet.
3.12 Anonymes Interview
Der Ausdruck Anonymes Interview bezeichnet das unkenntlich machen der Identität der Interviewten im Film mit gestalterischen Mitteln. Wenn das Nichterscheinen des Interviewers im Bild relevant ist, so muss auch über das Nichterscheinen des Befragten nachgedacht werden. Ein Filmbeispiel zu dieser Form ist Cürük - The Pink Report von Ulrike Böhnisch. In diesem Film werden homosexuelle (u.a. ehemalige) Soldaten der türkischen Armee zu ihrer Situation in der Armee und der Gesellschaft interviewt. Einige der Interviewten möchten zu ihrem Schutz vor der Kamera anonym bleiben. Das Besondere dieser Interviews liegt in der Umsetzung der Anonymisierung. Anstatt die Interviewten nur von hinten aufzunehmen, zu verpixeln oder sie hinter eine Schattenwand zu setzen, entscheidet sich die Filmemacherin für Kameraeinstellungen bei denen die Hände der Interviewten oder nur die untere Gesichtshälfte mit dem Mund im Bild sind. So gibt es eine Szene, in der die Filmemacherin die Hände des Interviewten in den Fokus nimmt, während dieser erzählt. Der Interviewte knetet seine Hände, aus Nervosität?, Anspannung? und Unbehagen? während er von seinen Erfahrungen berichtet. Durch die Kameraeinstellung wird das Gesprochene noch aussagekräftiger und trotz der Anonymität wirkt die Aufnahme persönlich und der Interviewte unverwechselbar, authentisch.
3.13 Moore-Methode
Die Moore-Methode (oder Rouch-Methode) beschreibt eine Interviewsituation im Reporterstil, d.h. das Frage-Antwort-Schema ist auf kurze Beiträge ausgelegt und offen für eine dialogische Form. Der Interviewer eröffnet das Interview durch eine Konfrontation, sei es mit Fakten, Fotografien und sonstigen Dokumenten oder aber mit einer Handlung und direktem Ansprechen. Da die zu Interviewenden nicht auf diese Situation vorbereitet sind, bedeutet diese Vorgehensweise eine Arbeit ins Offene. Man weiß nicht, wie die Reaktion des Gegenüber ausfällt. In dieser Interview-Form ist der Interviewer Teil der Handlung und daher meistens mit dem Interviewten zusammen im ON zu sehen. Dies lässt einerseits auf Selbstreflexivität schließen, andererseits, weil der Interviewer auch Teil der Handlung ist, auch wieder nicht. Hier ist es nicht eindeutig zu entscheiden. Diese Art von Interview kann nur mit einem Team von Kameramann und Tonassistent ggf. noch weiteren Personen durchgeführt werden. Denn der Interviewer ist teilweise Mittelpunkt der Handlung und im ON zu sehen.
Beispiele für diese Form finden sich in Filmen von Michael Moore und Jean Rouch, nach denen diese Form benannt ist. In Jean Rouch's Chronique d'un été wird Passanten auf der Straße die Frage „Sind sie glücklich?“ gestellt. Die Interviewerin ist mit im Bild wie auch die Befragten. Häufig werden nur einsilbige Antworten gegeben oder die Leute wehren ab. Jedoch zeigt sich in einer Szene, wie sich ein Dialog zwischen einem Passanten und der Interviewerin entwickelt.
Im Film Bowling for Columbine von Michael Moore werden hintereinander mehrere Szenen gezeigt, in denen Moore in fremde Häuser eindringt, deren Haustüren nicht verschlossen sind. Auf diese Weise verwickelt er die zurecht irritierten Bewohner in ein Gespräch und befragt sie zu ihrer Einstellung, die sie dazu bringt ihre Haustüren nicht zu verschließen.
Literatur:
Ballhaus, Edmund (2003): „Rede und Antwort. Antwort oder Rede? Interviewformen im kulturwissenschaftlichen Film.” In: Joachim Wossidlo, Ulrich Roters (Hrsg.): Interview und Film. Volkskundliche und Ethnologische Ansätze zu Methodik und Analyse. Waxmann, Münster/New York/München/Berlin, 11-49.
Carolyn Ellis, Tony E. Adams & Arthur P. Bochner (2011): Autoethnography: An Overview. Forum: Qualitative Social Research. Volume 12, No. 1, Art. 10 – January 2011 <http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1589/3095#g4>20.11.11
Dunker, Achim (2008): „Die chinesische Sonne scheint immer von unten“. Licht- und Schattengestaltung im Film. UVK: Konstanz.
Girtler, Roland (2001): Methoden der Feldforschung. Köln: Böhlaus. S. 147 -168.