Neue Fragen an Gesellschaft und Geschichte
Im Verlauf der sechziger Jahre wurden vor allem im Fernsehen immer mehr Nonfikionale Filme zu gesellschaftskritischen Themen ausgestrahlt. Regisseure in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, England und den USA befassten sich filmisch mit dem Alltag ihrer Mitmenschen und ebenso mit den Randbereichen der Gesellschaft in oft aufklärerischer Absicht. Obdachlose, Arbeitsmigranten und körperlich Behinderte wurden porträtiert. Ihre Filme sorgten für gesellschaftliche Debatten und zeigten die vielfachen Missstände auf – hier sei verwiesen u.a. auf die Filme von Jürgen Bötcher, Johannes Flütsch, Karl Gass, Walter Marti, Marlis Graf, David Loeb Weis, Mike Grey, Zelimir Zilnik, Bruno Jori, Alexander J. Seiler.
Weltweit wurde der mit voller Härte und Millionen zivilen Opfern geführte Vietnamkrieg zum Gegenstand des Protests und zum Symbol für eine aggressive Kolonialpolitik der USA und des gesamten kapitalistischen Systems, für das wiederum die USA als Symbol diente(HEARTS AND MINDS. Peter Davis. USA 1974, DER 17.BREITENGRAD Joris Ivens. FR 1967). In Deutschland wurden die Diskussionen bestimmt durch die Nazivergangenheit vieler Angehöriger des Bundesdeutschen Establishments in Politik, Wirtschaft, Justiz und Lehre. In Frankreich und Italien gelang es sozialistischen Studenten, welche große Teile des Protestes trugen die Arbeiterschaft mit in ihre Kämpfe einzubinden und große Streiks zu organisieren.Viele wichtige Nonfiktionale Filme dieser Zeit sind als politische Arbeiten zu verstehen, voller Solidarität mit der vietnamesischen Bevölkerung und ihren Kämpfen, sowie den als ebenbürtig angesehenen Kämpfen anderer kolonialisierter Staaten gegen ihre Besatzer, im territorialen wie ideologischen Sinne, und den weltweit stattfindenden Arbeitskämpfen. Der Film sollte der Agitation und Propaganda dienen, jedoch einer Propaganda des Volkes gegen jene der Mächtigen. In Filmclubs wurden kollektiv produzierte Werke gezeigt, es entstanden Distributionsnetzwerke abseits des Kinos und des Rundfunks, teils in der Illegalität. Beispielsweise in Francos Spanien konnten viele Filme nur illegal hergestellt und vervielfältigt werden.
Als zwei herausragende dieser Filmkollektive seien an dieser Stelle die US-Amerikanischen Newsreel-Gruppen (dezentrale Zusammenschlüsse aus Undergroundfilmern und Mitgliedern der Studentenbewegung) und die französische Gruppe SLON/Iskra genannt, in der der oben bereits erwähnte Chris Marker mitwirkte. Diese Gruppe nutzte ihre Technik erstmals dazu die Arbeiter verschiedener Fabriken zum Filmen ihres eigenen Alltags zu bewegen. Hierbei entstanden mehrere Filme, unter Anderem das vom NDR in Auftrag gegebene und aus zwei früheren Filmen kompilierte Werk DIE KAMERA IN DER FABRIK(Chris Marker u.a.. BRD1970). Bei diesem Film handelt es sich um eine frühe Form der Partizipatorischen Ethnographie, Die Newsreel – Gruppen, als wichtigste jene aus San Francisco und New York, konzentrierten sich auf den Vietnamkrieg, sowie die Schwarzen-, Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen. Aus anfangs kurzen Flugblattfilmen entwickelten sich mit der Zeit immer komplexere Filmarbeiten.(Roth 1982:91ff)
Die Geschichtswissenschaften bewegten sich Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre ab von einer monumentalen Geschichte der Herrschaft hin zu einer Geschichte von unten. Für die jüngere Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde bevorzugt mit Oral History gearbeitet. Zeitzeugen konnten zu Wort kommen und ihre Erlebnisse schildern, vorallem in der Multivokalität zeigte sich die Multidimensionalität der Geschichte, weit entfernt von einer einfachen Faktenwiedergabe. In Filmen der an aktuellen Themen orientierten Regisseure nahmen Interviews oft Statement Charakter an, wohingegen dezidiert historiographisch orientierte Filmer einen Schwerpunkt auf den Großteil des gesprochenen Wortes legten. Hans Jürgen Syberbergs Film WINIFRED WAGNER UND DIE GESCHICHTE DES HAUSES WAHNFRIED VON 1914 – 1975 (BRD 1975) beispielsweise lässt eine Angehörige des Hauses Wagner über fünf Stunden reden, über ihr Leben und ihre persönliche Freundschaft zu Adolf Hitler. Hierbei handelt es sich ebenso um ein Einzelportrait wie bei Hans-Dieter Grabes Film MENDEL SCHAINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND(BRD1972), in dem Grabe den Shoah Überlebenden Mendel Schainfeld auf einer Zugreise nach München begleitet, wo dieser eine höhere Kriegsgeschädigtenrente beantragen will. Die Kamera konzentriert sich auf den zum Fenster hinausblickend rauchenden Schainfeld, der von schmerzhaften Erinnerungsschauern ergriffen, über seine erlittenen Qualen berichtet. Grabe arbeitete für das Fernsehen und schaffte es sich mit seinen eindringlichen Portraits von den vorgegebenen 45 Minuten zu lösen und in fast reinen Interviewfilmen Menschen von, und direkt aus, ihrem Leben und Sterben berichten zu lassen. Anders die Filme von Marcel Ophüls, er vergleicht immer wieder das Vergangene mit dem Aktuellen und arbeitet mit Gruppenporträts (Vgl. LE CHAGRIN ET LE PITIE. Marcel Ophüls. SW 1969, THE MEMORY OF JUSTICE.Marcel Ophüls, UK, FR, BRD, USA 1975).
Als ein epochales Werk lässt sich Claude Lanzmanns SHOAH (FR1985) bezeichnen. Es handelt sich bei diesem Opus, an dem Lanzmann elf Jahre – von 1974 bis 1985 – arbeitete, um einen neunstündigen reinen Interviewfilm, in dem die Stimmen der Redenden, sind sie nicht im Bild als OFF- Kommentare über fahrende Güterwagons, die Gespenstischen Ruinen und Gedenkstätten der Vernichtungslager gelegt werden. Es war für dieses Werk wichtig viele Personen zu Wort kommen zu lassen, und vor allem solche, die in wichtigen Positionen der Tötungsmaschinerie saßen. Es sind Zeugen die Sprechen und nur zur Sache sich äußern. Aus verbliebenem Material, das sich nicht direkt mit den Vorgängen in den Vernichtungslagern beschäftigte wurden später noch weitere Filme geschnitten. Den ganzen Film über hört man den Fragesteller und oft auch seine Übersetzerin, muss ebenso wie er die teils quälenden Momente ertragen bis das Jiddische, Polnische oder Griechische in Französisch übersetzt ist. Auch aufgrund dieser von overvoice Übersetzungen unverfälschten Berichte ist der Film ein wichtiges historisches Dokument.
Lanzmann war gezwungen bei einigen Interviews mit Naziverbrechern mit versteckter Kamera zu filmen. Die reichlichen finanziellen Mittel die ihm von seinen Auftraggebern zur Verfügung gestellt worden waren ermöglichten es ihm mit einer Paluche zu drehen – sich nach einem unglücklichen Unfall gar noch ein zweites Modell anzuschaffen – und mit gefälschter Identität an seine Personen aus Schlüsselpositionen des Tötungsapparates heranzutreten und sie dazu zu bringen Geständnisse zu formulieren, zumeist ohne Schuld einzugestehen. Bei der Paluche handelte es sich um eine „etwa dreißig Zentimeter lange Kamera mit kleinem Durchmesser, die man in der Hand halten konnte […], ohne das Auge an den Sucher drücken zu müssen. Sie funktionierte nach einem Hochfrequenzvideosystem, nicht mit Videokassetten, sondern mit einem Sender […].“(Lanzmann 2010: 573ff)
Im Zuge der neueren Filmtheorie in den Filmwissenschaften und der um sich greifenden Diskurse zu Fragen der perspektivischen Interpretation von Wirklichkeit nahezu im gesamten akademischen Bereich, oft verkürzt als Postmoderne beschrieben, wurden die Möglichkeiten des Nonfiktionalen Films Wirklichkeit einfach nur einzufangen und Wiederzugeben in Frage gestellt. Viele Regisseure bewegten sich weg von den mehr oder minder positivistischen Ansätzen einer Filmtheorie, wie sie die direct cinema Apologeten verfochten, wandten sich stattdessen mehr dem documentary Stil zu und trieben diesen durch ausgiebige Verwendung von Spielszenen weiter. Es war zwar bereits in Wochenschaubeiträgen und Kulturfilmen üblich Szenen zu stellen, jedoch dienten diese zumeist der Authentifizierung und waren für das ungeübten Auge nicht ohne weiteres als solche erkennbar. Einen dramaturgisch aufgeputschten und höchst artifizielles Beispiel für die exzessive Anwendung von Spielszenen zur Unterstützung von abgefilmten Interviews liegt bei Errol Morris THIN BLUE LINE (USA 1988) vor. Morris entwickelte eine eigene Form der Interviewführung. Er interviewte in vielen seiner Filme mit einem von ihm „Interotron“ genannten Teleprompter, auf den statt zu verlesendem Text das Gesicht des Interviewers projiziert wird. Der Interviewte schaut, beim Blick auf den Teleprompter genau in die Kameralinse und somit scheinbar direkt auf den Rezipienten. (Morris 1997)