Direct Cinema und Cinema Verite
Anfang der 60er Jahre war es erstmals für Dokumentarfilmer möglich dank handlichen Kameras und umhängbaren Tonaufnahmegeräten mit kleinen Produktionsteams in Synchronton zu drehen. Versuche dazu wurden bereits in den Fünfzigern beim NWDR durch den Kameramann Carsten Dierkes gemacht, der ab 1954 das sogenannte Pilot-Ton-Verfahren fürs Fernehen einsetzte und hier mit handlichen Kameras und tragbaren Tonbandgeräten lippensynchrone Aufnahmen machen konnte. Allerdings war die Ästhetische Nutzung nicht mit den Filmen vergleichbar, die Anfang der sechziger Jahre entstanden.(Hickethier:44f) Abgesehen von dieser Ausnahme wurde der Synchronton zuvor in erster Linie vom Fiktionalen-Film in vergleichsweise aufwendigen Arrangements verwendet. Der Nonfiktionale Film nutzte zwar seit den dreißiger Jahren den Ton, jedoch wurde zumeist stumm gedreht und nachsynchronisiert. Es herrschte großteils eine wohldurchkomponierte Stummfilmästhetik vor.(Roth 1982:9)
Die 16mm Schmalfilme, die bereits 1923 als damals sehr teure Amatuerfilme eingeführt worden waren, nutzte man seit den Fünfzigern auch für Fernsehproduktionen. Diese Filme waren nur halb so groß wie die für die Kinos Produzierten 35mm Filme. Dementsprechend wurden auch die Materialkosten für dokumentarisch arbeitende Filme kleiner, ebenso wie die 16mm Aufnahmegeräte, welche weitaus handlicher als die großen Spielfilmkameras wurden. Zwar war die Körnung des Bildes schlechter, doch dies wurde für die deutlich geringeren Produktionskosten gern in Kauf genommen. Die Entwicklung immer farbempfindlicherer Filme und lichtstarker Objektive war Anfang der sechziger Jahre so weit gediehen, dass es möglich war ohne Kunstlicht auch in Räumen gut belichtete Bilder aufzunehmen. Es war mit derlei „Hardware“ ausgestattet möglich sich frei in der zu filmenden Umgebung zu bewegen und mit einem oft auf wenige Personen beschränktem Team fast unbemerkt zu agieren. Dies bedeutete einen immensen Fortschritt im Vergleich zu allen vorherigen Filmsituationen, in denen große Kameras auf Stativen mit künstlich mitgeführtem Licht angewendet werden mussten, um halbwegs brauchbare Bilder zu produzieren. Ein wenig mehr emanzipiert von schwerem Gerät, waren den Filmemachern nun ganz andere Ebenen der Reflexion über und der Bewegung in ihren Filmen gegeben.(Musser 1996:481)
„[D]ie Kameraleute bemühten sich in der Regel nicht mehr um einen harmonischen Bildaufbau, sondern orientierten sich am sprechenden Menschen. Sie folgten ihnen, wenn möglich mit Hilfe des Zooms. Der journalistische Zugriff wurde [...] zum Erkennungszeichen des 'neuen' Dokumentarfilms.“(Roth 1982:9)
In Frankreich und den USA entstanden aufgrund des neuen technischen a priori und entsprechender epistemologischer Einsichten neue Filmschulen. (Wir konzentrieren uns hier auf die Filmenden dieser Länder und ignorieren weitestgehend die Entwicklungen in den Ländern der damals sogenannten dritten und zweiten Welt, da sich dort zwar teils neue Formen des Dokumentarischen herauskristallisierten, jedoch das Interview bzw. der Synchronton in den entstandenen Filmen keine bedeutende Rolle einnahm.)(Roth 1982: 27) In Frankreich wird hier vom Cinema Verite und seinen Urvätern Jean Rouch und Edgar Morin zu reden sein und für das Direct Cinema über Robert Drew, Don Alan Pennebaker und Richard Leacock; letzterer hatte 1946 bereits als Kameramann beim Dokumentarfilpionier Flaherty gearbeitet.(Leacock. Alexander)
Mitglieder der Drew Association, um den Time Life Redakteur Robert Drew, bestehend aus Drew, Pennebaker, Leacock und Anderen, entwickelten eigene Prototypen von Kameras. Pennebaker und Leacock leiteten ein Unternehmen über welches sie geräuscharme 16mm Kameras entwarfen, deren Bau mit finanzieller Hilfe Drews ausgeführt werden konnte. Bei den ersten Drehs, saß der gelernte Elektro-Ingenieur Pennebaker in Bereitschaft im Hotel, um auftretende Fehler in der Technik direkt zu beseitigen, und so zugleich den Prototypen weiterzuentwickeln.(Leacock 1996) Vorerst wurden vor allem Sujets gewählt, denen eine spannende Struktur bereits inne lag, die zumeist ohnehin in der Öffentlichkeit stattfanden und/oder deren Akteure in einer solch angespannten Situation waren, dass sie auf das kleine Kamerateam wenig achteten. Dementsprechend dokumentierte man den Wahlkampf zwischen Kennedy und Humphrey (PRIMARY. Robert Drew.USA.1960), den Kampf von weißen Eltern gegen die Aufnahme schwarzer Schüler in die Schule ihrer Kinder (THE CHILDREN WERE WATCHING.Richard Leacock.USA.1960), ein Autorennen (ON THE POOL aka Eddie. R.Leacock.USA.1960) oder den Kampf eines Anwalts wider das Todesurteil gegen seines Mandanten (THE CHAIR. Robert Drew.USA1962).(Roth 1982: 1-13) In all diesen Filmen findet keine direkte Ansprache des Filmteams an die gefilmten Protagonisten statt. Da das Direct Cinema vorgibt eine Situation so zu filmen, wie sie sich zugetragen hat, handelt es sich bei den „Interviews“ um in die Handlung eingebettete Dialoge. Nach Leacock war es die Absicht Drews den Journalismus zu reformieren und vor Allem auf Interviews zu verzichten.
„[Drew,] an editor at Life Magazine who had an obsessive need to reform Television Journalism; to get rid of the interviews, to get rid of the narrators and to get the camera back to what it should be doing; observing. While I thought in terms of a "project" Drew thought in terms of reforming an industry and he had both the vision and the contacts to do it. We were able to have equipment built for us and we did.“ (Leacock 1993)
Wir behandeln den nach innen gerichteten Dialog jedoch als Interviewform, da es für den Zuschauer nicht festzustellen ist, ob vor dem Abfilmen einer Gesprächssituation eventuell der Filmer anregend auf einen Dialogverlauf eingewirkt oder gar einen Gesprächsimpuls, samt Themenvorschlag gegeben haben könnte. Die bildästhetische Form bleibt die Gleiche, auch wenn der Regisseur sich beim Direct Cinema erklärtermaßen nicht in das Geschehen einmischt, ergo weniger als Regisseur denn als stiller Beobachter fungiert. Dadurch, dass die Kamera ihrem Gegenstand auf Schritt und Tritt folgen kann – wie in PRIMARY (USA 1960)u.a. bis ins Auto – wird der Eindruck starker Authentizität erzeugt. Der Zuschauer soll sich als direkt der Situation beiwohnend wähnen und so quasi dem Leben beim Vollzug zusehen. Diese Art von Filmen werden dramatisiert durch den Schnitt und die Vorauswahl des Themas.(Roth 1982: 11ff) Leacock und Pennebaker trennten sich 1963 von Drew. Es entstand der Film HAPPY MOTHERS DAY. (Joyce Chopra, Richard Leacock.USA1963) den beide noch gemeinsam drehten und Leacocks Film A STRAVINSKY PORTRAIT(USA1964). Pennebaker begann eigene Projekte zu drehen, vor allem über Rockfestivals und Prominente Musiker wie beispielsweise den Film über Bob Dylans Englandtournee DONT LOOK BACK (USA 1967). Roth bezeichnet die drei Filme PRIMARY (Robert Drew. USA 1960), HAPPY MOTHERS DAY (Richard Leacock, Joyce Chopra USA 1963) und A STRAVINSKY PORTRAIT (Richard Leacock USA 1966) als „die drei Schlüsselfilme für die Geschichte des Direct Cinema[…]“,(Roth 1982:15) da in PRIMARY die Technik des Direct Cinema das erste Mal erfolgreich zu dokumentarischen Zwecken genutzt worden war, in HAPPY MOTHERS DAY – ein Film über die Feierlichkeiten in einer amerikanischen Kleinstadt nach der Geburt von Fünflingen, der in seiner ersten Fassung ohne zu kommentieren die Absurdität des Geschehens darstellt – das kritische Potential der Methode unter Beweis gestellt werden konnte und schließlich in dem Film über Stravinsky erstmals ein wirklich persönlicher Raum durchdrungen worden war; das Direct Cinema habe hier seine Fähigkeit bewiesen sehr intime Portraits zu zeichnen.(Roth 1982:15)
Anders als im Direct Cinema tritt die Kamera im französischen Cinema Verite offensiv und mitunter als Katalysator für das Dargestellte auf. Das wohl bekannteste und maßgebliche Werk dieser Schule ist der im Sommer 1961 gedrehte Film CHRONIQUE D`UN ETE (FR 1961) von dem Filmemacher Jean Rouch und dem Soziologen Edgar Morin gedreht. Der Film ist ein hochreflexives Experiment; es wird immerzu über die Wirkung der Kamera sinniert und der Film endet damit, dass die Gefilmten sich den Film selbst im Kino anschauen und kommentieren bevor Rouch und Morin, sich über die Reaktionen der von ihnen Gefilmten unterhaltend, durch die Gänge des Musée de l`homme gehen.(Musser 1996:483) Als zusätzlichen Kameramänner neben Rouch wurden der Kanadische Dokumentarfilmer Michel Brault und der ansonsten für Godard arbeitende Raoul Coutard engagiert. Verwendet wurde der Prototyp einer bloß sechs Kilo schweren Eclair Kamera, die ursprünglich von Raoul Coutard für das Militär entwickelt worden war und extra für Rouch und Morin über jeden beim Dreh auftretenden Fehler weiterentwickelt wurde.(Rouch 1984: 58)
Die Regisseure treten ab der ersten Szene immer wieder vor die Kamera, um mit den übrigen Akteuren ins Gespräch zu treten. Es handelt sich bei all den Akteuren um Freunde Edgar Morins aus der sozialistischen Gruppe Socialisme ou Barbarie. Dargestellt werden sollte die Stimmung eines Sommers in Paris, Morin dachte daran eine Ethnographie der Großstadt zu drehen, allerdings weihte er Rouch nicht in den Umstand ein, dass die Interviewpartner mit ihrem durchweg sozialistischem Hintergrund alles andere als einen Querschnitt der Pariser Bevölkerung darstellten.(Rouch 1984:55) Viele nachher regelmäßig in Fernsehreportagen, Features und anderen Beiträgen angewandte Inteviewtechniken tauchten hier gebündelt auf. Bereits nach wenigen Minuten geht Marceline mit dem Mikrophon auf die Straße und stellt Passanten die Frage nach dem Glück und ihrem Leben, eine damals unerhörte Situation, an die wir uns heute bis zur Übersättigung in Jahren des Fernsehkonsums gewöhnt haben. Auch Formen des Gruppengesprächs unter Anleitung Morins und/oder Rouchs wurden eingesetzt – die sich später ähnlich u.a. in PORQUOI ISRAEL(Claude Lanzmann.FR1972) wiederfinden. Der angeleitete, oft provozierte, Dialog und ein Autointerview als Marcelin Loridan über den Place de la Concorde geht und – ein Mikrophon am Mantel – über ihre KZ-Erfahrungen berichtet, sind zu sehen.
Epistemologischer Grundsatz dieses Filmes, beziehungsweise dieser Herangehensweise an die Wirklichkeit, war es die Wahrheit gewissermaßen herauszufordern und sie erst durch die Kamera zum Sprechen zu bringen. Die Kamera sollte als Katalysator die Personen vor der Linse dazu bringen über Dinge freiheraus zu reden, die sie unter normalen Umständen tief in sich verschlossen halten würden. Die durch das Urteilen der Gefilmten im Film über den Film und die mitgefilmten Gespräche über den filmischen Vorgang sind bis Dato einmalig in der Filmgeschichte gewesen. Ein Jahr später wurde von Chris Marker ein ähnliches Werk, LE JOLI MAI (Chris Marker.1962), ebenfalls über Paris angefertigt, hier werden allerdings im Unterschied zu CHRONIQUE D`UN ETE Off-Kommentare verwendet und es kommt zu klar inszenierten Szenen.(Roth 1982:18)
Rouch arbeitete zumeist in Afrika und fertigte bis zu seinem Tod 2004 an die hundertzwanzig Filme an. Vor allem für den Ethnographischen Film ist er von immenser Wichtigkeit. Viele Regisseure der Nouvelle Vague waren von seinem Schaffen beeinflusst und auf ihn geht die filmische Form der „ethnofiction“ zurück, in der die Dokumentierten sich selbst Rollen in eigens konstruierten Fiktionalen Filmen geben und spielen.